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Junge Literaturkritik
 

In diesem Jahr findet nun schon zum dritten Mal die globale°- Festival für grenzüberschreitende Literatur in Kooperation mit der Universität Bremen statt. In diesem Jahr beschäftigten sich Studenten des Masterstudienganges "Transnationale Literaturwissenschaft: Literatur.Theater.Film" des Fachbreichs 10 der Universität Bremen mit den Autoren der diesjährigen globale°. In Seminarform erarbeiteten sie sich einen Zugang zu den einzelnen Werken und verfassten Rezensionen. Diese werden auch im Weserkurier erscheinen. Außerdem werden die Studenten z.T. die Moderationen der einzelnen Veranstaltungen übernehmen und im Anschluss Gespräche mit den Autoren führen.



Kirsten Boie
Schwarze Lügen. Roman, 416 Seiten. Oetinger Verlag, Hamburg 2014. 17.95€. Ab 12 Jahren.
Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen. Erzählungen, 112 Seiten, Oetinger Verlag, Hamburg 2013. 12.95€. Ab 14 Jahren.


 

Amin Maalouf
Die Verunsicherten, Roman, Arche Verlag, Zürich 2014, 544 Seiten, 26,95 €. Aus dem Französischen von Lis Künzli.


 

Jagoda Marinić
Restaurant Dalmatia, Roman, Hoffmann und Campe, 2013, 19,99 Euro


 

Katja Petrowskaja
Vielleicht Esther, Roman, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2014, 285 Seiten, 19,95 Euro


 

Jaroslav Rudiš
Vom Ende des Punks in Helsinki. Roman, 349 Seiten, Luchterhand Verlag, München, 2014, 14,99 Euro.


Saša Stanišić
Vor dem Fest, Roman, Luchterhand Verlag, 2014, 315 Seiten, Preis der Leipziger Buchmesse im Bereich Belletristik.


Deniz Utlu
Die Ungehaltenen, Roman, Graf Verlag, München, 2014, 240 Seiten, 18,00 Euro.


 
 
 


Kirsten Boie
Schwarze Lügen. Roman, 416 Seiten. Oetinger Verlag, Hamburg 2014. 17.95€. Ab 12 Jahren.

von: Silvia Rosenlund

Ein kleiner Ausflug ans Meer endet auf der Flucht. Und aus einem ganz normalen Mädchen wird eine offiziell gesuchte Kriminelle. In Schwarze Lügen zeigt Kirsten Boie, wie Zufälle gepaart mit Notlügen und Vorurteilen dazu führen, dass manchmal alles ganz anders kommt, als man denkt

Der Kriminalroman handelt von Melody, die ungeahnt von der Polizei verdächtigt wird, in einen Bankraub verwickelt zu sein, den ihr Bruder begangen haben soll. Die Spuren am Tatort und die Tatsache, dass Melody durch einen dummen Zufall mit der Beute des Bankraubs unterwegs ist, scheinen für die Polizei perfekt zusammen zu passen. Schließlich entsprechen Melody und ihr Bruder als „schwarze“ Jugendliche aus einer Hochhaussiedlung am Rande der Stadt doch dem typischen Profil krimineller Jugendlicher. Doch dann meldet sich der wahre Täter und erpresst Melody um seine Beute wiederzubekommen. Gemeinsam mit zwei Wegbegleitern versucht sie, den Fall selbst aufzuklären und die Vorwürfe und Vorurteile zu beseitigen. Am Ende ergeben die vielen Zufälle und unverhofften Begegnungen für Melody und ihre Familie einen Weg in ein unabhängiges Leben.
Kirsten Boie erzählt die Geschichte von Melody, jedoch gibt sie fast allen auftretenden Figuren eine eigene Stimme. Die multiperspektivische Erzählweise schärft die Sicht nicht nur für die komplexe und dynamische Handlung, sondern besonders für die verschiedenen Figuren mit all ihren Hintergründen und Schicksalen. Dadurch erzählt der Roman fast nebenbei von Problemen wie sozialer Ungleichheit, der Suche nach Anerkennung, sowie innerfamiliären Konflikten. Die Vorurteile, die bei fast allen Figuren bewusst oder unbewusst vorhanden sind, werden so nicht moralisiert oder bewertet, sondern es wird gezeigt, was sie verursachen und auch, was möglich ist, wenn ein Umdenken stattfindet. Schwarze Lügen ist ein packender Kriminalroman für Jugendliche ab 12 Jahren, der es dank der Vielschichtigkeit der Figuren und der altersentsprechenden Sprache schafft, gesellschaftlich anspruchsvolle und wichtige Themen für Jugendliche zugänglich zu machen ohne dass die Spannung darunter leidet.

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Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen. Erzählungen, 112 Seiten, Oetinger Verlag, Hamburg 2013. 12.95€. Ab 14 Jahren.

Von Silvia Rosenlund 

"Für dein Leben wünsche ich mir, dass du glücklich wirst. Dass die Krankheit nicht in dir lauert.“ Mit großer Sensibilität schildert Kirsten Boie den Alltag von vier Kindern aus Swasiland, in dem Armut, Krankheit und Verantwortung ganz selbstverständlich sind.

Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen. Diesen Satz von ihrer Mutter hat Sonto noch im Ohr. Sie ist eins von vier Kindern aus Swasiland, einem Land, in dem die durchschnittliche Lebenserwartung 31 Jahre beträgt, weil es die höchste HIV-Infektionsraterate weltweit hat und in dem 45% aller Kinder Waisen sind. Die Geschichten erzählen davon, wie die Kinder Verantwortung übernehmen: für die Erziehung ihrer Geschwister, für die Versorgung der Familie, für all das, was ihre Eltern getan hätten, wenn sie noch da wären. Aber sie sind nicht mehr da. So geht Thulani nicht zur Schule, weil er sonst seine Geschwister allein lassen müsste. Lungile verkauft ihren Körper, damit ihre kleine Schwester zur Schule gehen kann. Sipho holt jeden Tag Wasser, obwohl das Frauenarbeit ist, aber es ist keine Frau mehr im Haus. Und Sonto und ihre kleine Schwester wandern stundenlang durch das Land und hoffen, dass die Schwestern der Krankenstation das Virus nicht in ihrem Blut finden, damit es ihnen nicht genauso ergeht wie ihren Eltern. Alle vier Geschichten erzählen vom täglichen Kampf ums Überleben und davon, dass das für die Kinder in Swasiland ganz normaler Alltag ist.
Noch ein Buch über Afrika, noch ein Buch über Leid und Armut der Kinder dort und noch ein Buch, das an das Mitleid der Leser appelliert. Das könnte man denken bei der Thematik, die Kirsten Boie hier aufnimmt. Aber dieses Buch gehört nicht dazu. Zum Glück. Trotzdem ist es schockierend dieses Buch, denn es ist schockierend, was den Kindern alltäglich passiert. Und all das wirkt so besonders schockierend, weil Kirsten Boie diese Geschehnisse in eine Sprache verpackt, die man normalerweise in Büchern für Kleinkinder vermuten würde und nicht in einem, dass ab 14 Jahren empfohlen wird. Die Kombination aus Sprache und Inhalt ist hier das Geheimnis. Die Autorin erzählt mit einer behutsam und poetisch beschreibenden Sprache, die in ihrer Vorsicht, in ihrer Zaghaftigkeit so gewaltig ist, dass die erschütternden Ereignisse umso drastischer hervortreten. Sie übertreibt nicht und sie beschönigt nicht. Wie der Einband so sind auch die Erzählungen daher unaufdringlich aber sehr ergreifend, abgeschlossen mit einem sehr persönlichen Nachwort. Kirsten Boie öffnet den Blick für die Realität dieser Kinder. Eine Realität, die erschreckend ist, aber wahr. Und absolut lesenswert.


Kirsten Boie, 1950 in Hamburg geboren, ist eine der bekanntesten und beliebtesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Neben dem Schreiben widmet sie sich zahlreichen sozialen Projekten inner- und außerhalb Deutschlands. Die Themen, mit denen sie dabei in der täglichen Realität konfrontiert wird, wie Armut, Rassismus oder HIV, spiegeln sich auch in ihren Büchern wieder.

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Amin Maalouf
Die Verunsicherten, Roman, Arche Verlag, Zürich 2014, 544 Seiten, 26,95 €. Aus dem Französischen von Lis Künzli.

von:

„Ich bin schließlich auf einem Planeten geboren, nicht in einem Land“ empört sich Adam, wenn andere von ihm verlangen, sein Zuhause zu definieren. Seit 20 Jahren lebt der franko-libanesische Historiker nun schon in Paris und hat seitdem keinen Fuß mehr in den Libanon gesetzt. Bis zu dem Tag, an dem er durch einen Anruf erfährt, dass ein alter Freund im Sterben liegt.

Die persönliche Komponente dieser Geschichte lässt sich kaum verbergen. Der Schriftsteller Amin Maalouf ist 1949 im Libanon geboren und lebt seit 1979 in Paris. Seit seinem ersten veröffentlichten Essay „Der Heilige Krieg der Barbaren: die Kreuzzüge aus der Sicht der Araber“ beschäftigt er sich in seinen Büchern vor allem mit unterschiedlichen Sichtweisen auf die arabische und westliche Welt. Für viele gilt er gewissermaßen als Sprachrohr für eine Generation, die sich über ihr Weltbürgertum definieren will.
Im Roman Die Verunsicherten wird Adams Reise in den Libanon zu einer Spurensuche der Erinnerungen. Er kommt zu spät, um seinen Freund lebend anzutreffen. Doch einmal vor Ort, wird er von seinen Erinnerungen überwältigt und beschließt, länger zu bleiben. Lange hat er seine Vergangenheit verdrängt und nun, innerhalb von 16 Tagen, sucht sie ihn heim, in Form von alten Briefen, seinen eigenen Tagebucheinträgen und Kontaktaufnahmen mit lange aus den Augen verlorenen Freunden, die sich seither in alle Winde verstreut haben. Ihre unterschiedlichsten Lebenswege werden aufgezeigt, Ansichten prallen aufeinander. Alles läuft auf ein Zusammentreffen hinaus, das Adam organisiert, doch zu dem es aufgrund eines Autounfalls nicht mehr kommen soll.
Der Roman besteht aus Fragmenten der Vergangenheit, die in sprunghafter Form immer genauere Konturen von Adams Studentenzeit im Libanon der 70er Jahre nachzeichnen. Durch die Tagebucheinträge, in denen Adam seine frisch gewonnenen Eindrücke festhält, gelingt ein Eintauchen in seine Gedankenwelt. Die Handlung dreht sich nicht um große Ereignisse, sondern um einzelne Gedankenstränge, die nach und nach zu einer Geschichte verwoben werden. Die Präsenz des libanesischen Bürgerkriegs der 70er Jahre und der nach wie vor anhaltenden ethnischen Konflikte zeigt sich in ihren Auswirkungen auf die Romanfiguren, ohne durch konkrete Fakten skizziert und erklärt zu werden. Obwohl auf über 500 Seiten gerade mal 16 Tage behandelt und konkrete Ereignisse kaum beschrieben werden, wird der Roman nicht langatmig. Maalouf beschreibt in blumiger Sprache die Gefühle und Gedanken eines Exilanten und bringt den Leser dazu, über Vergangenheit und kulturelle Prägung nachzudenken. Die Figuren werden auf sympathische Weise beschrieben. Ob es sich um eine lebenslustige Hotelbesitzerin, einen im Kloster lebenden Mönch, einen in Brasilien lebenden Juden oder einen reichen Geschäftsmann handelt, man bekommt den Eindruck, sie alle zu kennen und durch den einfühlsamen Blick des Erzählers, ihr Innenleben begreifen zu können. Bedauerlich ist die bisher nur dürftige Resonanz im deutschsprachigen Raum, da Die Verunsicherten ein lesenswertes Buch ist, das eine Welt beschreibt, die den meisten nur wage bekannt sein dürfte.

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Jagoda Marinić
Restaurant Dalmatia, Hoffmann und Campe, 2013, 19,99 Euro

Von Ana Hogue

Das Buch Restaurant Dalmatia, geschrieben von der deutsch-kroatischen Schriftstellerin Jagoda Marinic, Tochter kroatischer Einwanderer aus Dalmatien, erzählt die Geschichte der 38-jährigen Mia. Mia Markovich, geboren Mija Markovic, Tochter eines kroatischen Gastarbeiters in Berlin-Wedding, ist eine Frau mit zwei Vor- und Nachnamen, mit verschiedenen Herkunfts-, Geburts- und Wohnorten und sie sucht ihre Identität, ihre Kindheit, ihre Heimat. Ihr Leben ändert sich ständig, genauso wie die Buchstaben in ihren Vor- und Nachnamen. Es wird über die zweiwöchige Reise von Toronto nach Berlin und später nach Dalmatien erzählt. Trotz ihrer erfolgreichen Karriere in Toronto steht Mias Leben still. Sie begibt sich auf die Reise in ihre Vergangenheit, um ihre Zukunft weiter leben zu können. Angekommen in Berlin stellt sie fest, dass sich alles weiter entwickelt hat, außer ihrem Zufluchtsort der Kindheit, das Restaurant Dalmatia, das von Ihrer Tante Zora geführt wird. Es stellt sich heraus, dass zwischen ihr und ihrer Familie eine unsichtbare Mauer errichtet worden ist. Eine Mauer, wie einst auf dem Foto, das sie als Kind mit der Polaroid-Kamera ihrer Eltern heimlich geschossen hat. Die zwei vertrauten Personen, Zora und Jesus, begleiten Mia auf ihrer mentalen Reise zwischen den verschiedenen Ländern, Städten, Kulturen, Zeiten, Mentalitäten und Glauben.
Leitmotiv des Romans ist die Mauer. Damit ist nicht nur die historische Berliner Mauer gemeint, sondern auch eine Mauer in zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Berliner Mauer etabliert sich im Buch als nationaler Erinnerungsort und darüber hinaus als symbolische Bedeutung für die latente Grenze, die sich unter Eiwanderern und Deutschen und unter eigenen Familienmitgliedern konstituiert. Die Suche bekommt für die Protagonistin eine besondere emotionale, identitätsstiftende Bedeutung. Die Thematik der Migration wird im Buch sehr präzise repräsentiert. Man findet sich wieder, indem man versucht eigenes Kulturerbe zu bewahren und auf dieses aufzubauen: „Natürlich kannst du dich neu erfinden. Aber nur aus dem Stoff, den du zur Verfügung hast.“
Der Roman wird in 16 Kapitel erzählt, aufgeteilt in verschiedene Orte und Zeiten. Mit einer eigener Erzählmethode und einem Schreibstil schafft die Autorin, den Inhalt vielseitig darzustellen: poetisch, in Dialogen, im Klartext. Redewendungen auf Kroatisch und auf Englisch machen das Erzählen natürlicher und authentischer. Das Buch erinnert an eine georgische Ballade über eine Maus, die mit ihrem Dasein unter der Erde unzufrieden ist. Sie möchte unbeschränkte Freiheit und strebt danach, unter dem blauen Himmel zu schweben. Nach beständigem Beten beschert ihr Gott Flügel. Bei ihrem ersehnten Flugversuch wird sie von den Vögeln nicht wahrgenommen. Zurück zuhause wird sie auch von den Mäusen nicht mehr akzeptiert, weil sie ihre Sippe verraten hat. Seitdem sieht sie wie eine Maus aus und fliegt wie ein Vogel, aber ist keins von beidem, sondern eine Fledermaus, die nachts fliegt und tagsüber mit den Krallen in einer Hölle kopfüber hängt. Die Gesellschafft um Mia herum ist nicht reif, Rassentrennung und kulturelle Vorurteile zu bewältigen. Die Einwanderer, die die kollektiven Erinnerungen an Unterjochung in ihrem eigenen Land zu vergessen versuchen und in einem fremden Land ein neues Zuhause gefunden zu haben glauben, bemühen sich, sich anzupassen, Bindungen zu erzeugen. Am Ende schafft es Mia, ihre eigene Brücke zu bauen und auf dieser zu stehen.

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Katja Petrowskaja
Vielleicht Esther, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2014, 285 Seiten, 19,95 Euro:

Von Maia Gvelesiani

So wie Petrowskajas Erzählerin nach den hebräischen Buchstaben auf dem Pflasterweg in Kalisz sucht, die aus zersägten jüdischen Grabsteinen stammen - „Ein System der Vernichtung mit mehrfacher Sicherung“ - so sucht sie, und findet auch, die Spuren ihrer auf der ganzen Welt zerstreuten Verwandtschaft und Vorfahren. Eine bewegende Geschichte, deren Protagonisten nicht nur ein Teil des Buches, sondern auch ein Teil der grausamen geschichtlichen Wahrheit sind. „Die Vierzehn ergeben mehr als die Tausend.“ Die Rede ist von vierzehn Kriegsgefangenen und Juden, die als Apfelbaumschmuck zum 14. Geburtstag des Kommandantensohnes im Mauthausener KZ im Jahr 1941 an einem Baum erhängt worden sind. Die Art und Vorstellbarkeit des Todes macht diese Zahl mächtiger und unvergesslicher. Die Suche nach einer eigenen Identität basiert auf der Suche nach kollektiver Identität. Das ist das Leitmotiv des Romans. Wenn man nicht nur nach einzelnen Personen sucht, sondern nach dem Schicksal der ganzen jüdischen Nation gräbt, versteht man die einzelnen Schicksäle besser, und findet sich selbst. Der Leser rennt mit der Großmutter Rosa einem sich in Bewegung setzenden Zug ins KZ nach; marschiert den Todesmarsch mit Gefangenen nach Mauthausen; spürt das Ende des zum Tode verurteilten Judas Stern; wird mit Urgroßmutter Anna und Ljolja in Babijahr erschossen und irrt mit der Urgroßmutter – vielleicht hieß sie - Esther durch das von Luftangriffen zerbombte Kiew. Diese Personen leben in Erinnerungen weiter, so dass die Erzählerin und damit der Leser nie vergisst, welche grausamen Verhängnisse ihnen widerfahren sind.
Der Roman umfasst eine Rahmen- und mehrere Binnenerzählungen. In der Rahmenerzählung begibt sich die Hauptfigur auf die Suche nach Geschichten von ihren Vorfahren und Verwandten. Die Binnenerzählungen ergeben sich aus diesen Geschichten, erzählt in verschiedenen Zeitspannen und verschiedenen Räumen. Die Autorin führt den Leser Schritt für Schritt in ihre Familie ein. Ein Erinnerungsfetzen da, ein von Fremden erzähltes Ereignis dort, ergeben am Ende die komplizierte Historie des Heller-Krzewin-Lewi-Stern-Petrowskaja-Owdjenko-Stammes. Die Familienmitglieder werden nicht nur präzise beschrieben, sondern auch bildlich dargestellt, was dem Roman Authentizität verleiht und einen Anspruch auf Wahrheit erhebt. Die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion ist sehr schmal, fast unsichtbar. Was ist Wahrheit und was ist Fiktion? Die wahren Begebenheiten, geschmückt mit den einfallsreichen und stilvollen Schilderungen und mit den pittoresken und gekonnten Beschreibungen, sind Teil der Erzählfiktion geworden. Die verschiedenen Sprachen gestalten den Roman authentischer. Die Protagonisten sprechen Russisch, Polnisch, Hebräisch, Jiddisch, Deutsch, Englisch und Gebärdensprache. Die Autorin spielt mit den Wörtern, kreiert sie neu: „Ich war auf den Fikus fixiert, ich war fikussiert“. Außerdem finden sich im ganzen Text intertextuelle Bezüge zur griechischen Mythologie, die dem Roman eine abstrakte bzw. orakelhafte Seite verschaffen. Beim Lesen hat man das Gefühl eine Gedankenkette in einem fremden Kopf zu verfolgen und wahrzunehmen. Eine Gedankenkette, die immer wieder zwischen der heutigen Realität und den Erinnerungen aus der Vergangenheit wechselt. Man geht auf eine anachronistisch gestaltete Zeitreise, die zwischendurch durch Ansichten und Meinungen der Erzählerin unterbrochen wird. Mal fungiert sie nur als Beobachterin des Vergangenen, mal ist sie selbst die Handelnde, mal schlüpft sie in eine Erzählerrolle, mal gewährt sie den Lesern einen Blick in ihre verworrenen Gedanken. Verworren wie die Geschichte selbst.

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Jaroslav Rudiš
Vom Ende des Punks in Helsinki. 349 Seiten. Luchterhand Verlag. München, 2014. € 14,99.

„Das ist Punk!“ Jaroslav Rudiš vierter Roman Vom Ende des Punks in Helsinki zeigt auf, wie schwierig es sein kann, sich nach dem Leben als Punk in der Gesellschaft zurechtzufinden – besonders wenn einen die Vergangenheit immer noch verfolgt.

Von Kristin Krause

Der Mitvierziger Altpunker Ole, Besitzer der Kneipe Helsinki, lebt seit dem Ende seiner Punkband Automat, die er gemeinsam mit seinem Jugendfreund Frank gegründet hat, visionslos in den Tag hinein und vegetiert merklich vor sich hin. Hinzu kommen seine schmerzlichen Erinnerungen an die junge Punkerin Nancy, die er als Jugendlicher auf dem ersten Ostblock-Konzert der Toten Hosen in Pilsen trifft und die beim gemeinsamen Versuch, in den Westen zu fliehen, erschossen wird. Nachdem seine Kneipe Helsinki auf Grund von Baufälligkeit vom Stadtamt geschlossen wird, verliert sich Ole zunehmend in diesen Erinnerungen und wird regelrecht von ihnen verfolgt. Er erkennt, dass seine einzige Möglichkeit mit diesen Erinnerungen abzuschließen darin liegt, an den Ort des Geschehens zurückzukehren und so macht er sich auf die Reise nach Tschechien, die gleichzeitig eine Reise in seine Vergangenheit ist.
Rudiš nimmt den Leser auf melancholische und ironische Weise auf diese Reise mit. Dabei fängt er immer wieder beispielhaft die Stimmung der damaligen Zeit ein, allem voran durch sein rotziges Punkmädchen Nancy und ihr Tagebuch „Tal der Hohlköpfe“ und bringt dem Leser so ein Stück Punkrock in die eigenen vier Wände. Nancy steht dabei beispielhaft für Rudiš Figuren, die sich durch ihre starken und auffälligen Charakterzüge auszeichnen. Dies zeigt sich nicht nur durch ihr punkiges Erscheinungsbild, ausstaffiert mit Lederjacke, Nieten und Sicherheitsnadeln, sondern vor allem durch ihre Sprache. Nancy spricht und schreibt, wie es ihr gerade in den Sinn kommt, Schimpfwörter und Fäkalsprache stehen dabei auf der Tagesordnung. Gerade dieser flapsige Jugendstil macht den Roman so lesenswert und steht im starken Kontrast zu Ole, dessen Leben im Vergleich umso trister und auswegloser wirkt. Die Aggressivität und Ironie, mit der Rudiš ihn sprechen lässt, bestärkt sein tragisches Vor-sich-hin-vegetieren nur noch mehr. Rudiš eindrucksvolle Bilder verkörpern diese trostlose Stimmung des Romans ebenfalls und machen immer wieder deutlich, dass man der eigenen Vergangenheit nicht entfliehen kann, selbst wenn man sie so systematisch verdrängt wie Ole. Ein weiteres außerordentliches Merkmal das hervorsticht, ist die besondere Verknüpfung der beiden Erzählstränge, die erst nebeneinander herlaufen, sich dann jedoch durch das gemeinsames Ereignis des Konzerts der Toten Hosen verbinden. So schafft Rudiš, nicht nur durch die Thematik, sondern auch durch seine außergewöhnliche Sprache und Stil einen eindrucksvollen Roman, der den Leser durch seine Vielschichtigkeit von Seite zu Seite aufs Neue reizt.

Jaroslav Rudiš, geboren am 8. Juni 1982 in Turnov, ist ein künstlerischer Tausendsassa. Der tschechische Schriftsteller, Dramatiker und Drehbuchautor, ist neben seiner Schriftstellerei in vielfältigen Bereichen tätig. So hat er bereits mehrere Theaterstücke verfasst, ein Hörbuch geschrieben und den Comic Alois Nebel entworfen, der 2013 sogar verfilmt wurde. Ein weiteres wichtiges künstlerisches Standbein Rudiš ist seine Kafka Band, die Musik, Literatur und Videokunst vereint.

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Saša Stanišić
Vor dem Fest, Luchterhand Verlag, 2014, 315 Seiten, Preis der Leipziger Buchmesse im Bereich Belletristik

“Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr.”, so beginnt Saša Stanišic seinen neuen Roman Vor dem Fest. Ein brillantes Werk, das mit der deutschen Sprache spielt und diese ganz neu auslegt.

Von Valentina Ann-Katrin Meyer

Der Autor ist 1978 in Bosnien und Herzigowina geboren und flüchtete 1992 nach der Besetzung seiner Heimatstadt Višegrads nach Deutschland. In Heidelberg studierte er Deutsch als Fremdsprache und Slavistik. Sein Debütroman Wie der Soldat das Grammofon repariert erschien 2006 und nun folgt der zweite Roman Vor dem Fest, der auf der Leipziger Buchmesse im Bereich Belletristik ausgezeichnet wurde.
Zunächst trauert das fiktive uckermarkische Dorf Fürstenfelde um ihren verstorbenen Fährmann. Jeder im Dorf kennt ihn und jeder hat eine eigene Geschichte über ihn zu erzählen. Dieser traurige Anfang wirkt sich aber nicht auf die Stimmung im Roman aus. Hier geht es vor allem um die Vorfreude auf das Annenfest, welches mit Hilfe des gesamten Dorfes vorbereitet wird. Nach und nach erfährt der Leser immer mehr über die im Dorf lebenden Personen. Das erzählende “Wir” setzt sich aus einer bunten Menge an Menschen zusammen: Frau Schwermuth, die das Haus der Heimat leitet; Herr Schramm, der eigentlich nicht mehr leben möchte und auf der ständigen Suche nach Zigaretten ist; Anna, das junge Mädchen, mit dem Wunsch in Rostock zu studieren; Frau Kranz, die Malerin und viele andere spannende Charaktere. Anfangs wird den Figuren im Roman immer ein eigenes Kapitel gewidmet, später führt Saša Stanišic einzelne Personen zusammen und gibt ihnen eine gemeinsame Erzählung. Zudem sind viele Geschichten in dieser Rahmenhandlung zu finden, die von früheren Jahrhunderten in Fürstenfelde erzählen.
Saša Stanišic fremdelt und spielt in seinem zweiten Roman mit der deutschen Sprache. Er verändert die Schreibweise einzelner Wörter und stellt somit eine Mischung aus altdeutschem Schreibstil und neuer fiktiver Sprachvariation dar. Durch seinen migratorischen Hintergrund und sein Studium entwickelt Saša Stanišic in diesem Roman eine ganz neue Art zu schreiben. Diese verleiht dem Buch einen gewissen Pep, fesselt den Leser und fordert ihn zugleich. Somit wird das Lesen nie langweilig. Die vielen einzelnen Geschichten von Charakteren, Schicksal, Sorge und Not um die Zukunft, die immer näher kommende Globalisierung fügen sich zu einem lebendigen Bild des uckermarkischen Fürstenfeldes zusammen. Im Dorf geht es nicht hektisch zu, wie in einer Großstadt, nein, dort ist es gesellig und manchmal dauert alles etwas länger. Genau das drückt Saša Stanišic auch in seinem Schreibstil aus, oftmals neigt der Roman zu gekonnten Längen. Durch all diese Einzelheiten bekommt der Leser einen detaillierten Einblick in das Leben auf dem Dorf, einen kleinen Eindruck von dem schwierigen Begriff der Heimat aber auch eine Vorstellung von der Geselligkeit, von Mythen und Geschichten und von der Zusammenarbeit der Fürstenfelder.

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Deniz Utlu
Die Ungehaltenen, Roman, Graf Verlag, München, 2014, 240 Seiten, 18,00 Euro

„Mit den Zähnen zog ich den Stift aus der Handdrohne, die ich noch aus dem Dritten Weltkrieg hatte, und ließ sie dem Moderator in den vor Schreck offenen Mund fliegen“ - Ungehalten ist ein sehr milder Ausdruck für das, was in Elyas, dem Protagonisten des Erstlingswerkes von Deniz Utlu vorgeht.
Sind Gewaltphantasien, Wut und das Gefühl von Leere das einzige was dem jungen Elyas bleiben?

von Sebastian Klaßen

Müde und erschöpft von sozialen und gesellschaftlichen Ritualen ergibt er sich immer weiter seiner Apathie und steigert sich zunehmend in aggressive imaginäre Szenarien, die er gegen seine Mitmenschen und die Gesellschaft als Ganze richtet. Im Roman wird dessen täglicher Lebensablauf geschildert, welcher zunehmend immer absurder, ungeordneter und realitätsfremder wird. Elyas geht Fragen von Zugehörigkeit in der Gesellschaft und dem verlorenen Heimatgefühl nach. Nacheinander brechen seine sozialen Kontakte zu Freunden und Familie ab und selbst sein vielversprechendes Jurastudium setzt er nicht weiter fort. Nach dem Tod seines schwerkranken Vaters und der Reise der Mutter in die Türkei nimmt er Kontakt zu Aylin auf, einer jungen Ärztin, der er auf der 50. Jahrfeier zum Anwerbeabkommen näherkommt und welche ein ähnliches Schicksal wie Elyas teilt. Seine Gewaltphantasien nehmen an Absurdität zu, bleiben jedoch ohne Konsequenzen. Nach dem Tod von Aylins eigenem Vater reisen die beiden in die Türkei, auf der Suche nach einer Gesellschaft, der sie sich zugehörig fühlen. Dennoch finden sie auch in der Heimat der Eltern nicht ihren Platz und werden auch dort als Fremde behandelt. Schließlich kehrt Elyas nach Berlin zurück, augenscheinlich gereift und ruhiger, aber ohne Aylin. Es endet dort, wo alles begann – mit Onkel Cemal, der es geschafft hat aus der Vergangenheit zu lernen und damit in die Zukunft zu treten.
Während die erste Hälfte des Romans vor allem durch seine poetische und eindringliche Sprache besticht, die einen geradezu einlädt, mit Elyas durch Berlin und seine Gedankenwelt zu hasten, verflacht der Plot mit der Reise der Protagonisten in die Heimat der Eltern. Das Narrativ wirkt im Vergleich zur ersten Hälfte zäher und langatmiger, die Figuren erscheinen blasser und verlieren ihre vormals beeindruckende Tiefe. Der Leser, anfangs noch durch Elyas Gewaltphantasien gepackt, verkommt zum Mitreisenden auf einem zu künstlich aufgebauschten Road-Trip durch die Orte der Vergangenheit der Eltern. Eine Stärke des Romans ist wie Elyas, als authentische, clevere aber auch irrationale und depressiver Figur, sich reflektierend durch andere Figuren auch zwischen Gegenwart und Vergangenheit bewegt. Er regt an darüber nachzudenken, was man daraus für die eigene Zukunft mitnehmen kann. Die eingangs erwähnten großen Fragen nach Zugehörigkeit und der Rolle des Individuums in der Gesellschaft bleiben jedoch offen. Vielmehr motiviert der Autor eine ganze Generation, sich mit diesen Fragen zu konfrontieren und die eigene Aufgabe zu hinterfragen.

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