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Junge
Literaturkritik |
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In
diesem Jahr findet nun schon zum dritten Mal die globale°- Festival
für grenzüberschreitende Literatur in Kooperation mit der Universität
Bremen statt. In diesem Jahr beschäftigten sich Studenten des Masterstudienganges
"Transnationale Literaturwissenschaft: Literatur.Theater.Film"
des Fachbreichs 10 der Universität Bremen mit den Autoren der diesjährigen
globale°. In Seminarform erarbeiteten sie sich einen Zugang zu den
einzelnen Werken und verfassten Rezensionen. Diese werden auch im Weserkurier
erscheinen. Außerdem werden die Studenten z.T. die Moderationen
der einzelnen Veranstaltungen übernehmen und im Anschluss Gespräche
mit den Autoren führen. |
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Kirsten
Boie
Schwarze
Lügen. Roman, 416 Seiten. Oetinger Verlag, Hamburg 2014.
17.95€. Ab 12 Jahren.
Es
gibt Dinge, die kann man nicht erzählen. Erzählungen,
112 Seiten, Oetinger Verlag, Hamburg 2013. 12.95€. Ab 14 Jahren.
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Amin Maalouf
Die
Verunsicherten, Roman, Arche Verlag, Zürich 2014, 544
Seiten, 26,95 €. Aus dem Französischen von Lis Künzli.
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Jagoda
Marinić
Restaurant
Dalmatia, Roman, Hoffmann und Campe, 2013, 19,99 Euro
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Katja
Petrowskaja
Vielleicht
Esther, Roman, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2014, 285 Seiten,
19,95 Euro
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Jaroslav
Rudiš
Vom
Ende des Punks in Helsinki. Roman, 349 Seiten, Luchterhand
Verlag, München, 2014, 14,99 Euro.
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Saša
Stanišić
Vor
dem Fest, Roman, Luchterhand Verlag, 2014, 315 Seiten, Preis
der Leipziger Buchmesse im Bereich Belletristik.
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Deniz
Utlu
Die
Ungehaltenen, Roman, Graf Verlag, München, 2014, 240
Seiten, 18,00 Euro.
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Kirsten
Boie
Schwarze
Lügen. Roman, 416 Seiten. Oetinger
Verlag, Hamburg 2014. 17.95€. Ab 12 Jahren.
von: Silvia
Rosenlund
Ein
kleiner Ausflug ans Meer endet auf der Flucht. Und aus einem ganz normalen
Mädchen wird eine offiziell gesuchte Kriminelle. In Schwarze Lügen
zeigt Kirsten Boie, wie Zufälle gepaart mit Notlügen und Vorurteilen
dazu führen, dass manchmal alles ganz anders kommt, als man denkt
Der Kriminalroman
handelt von Melody, die ungeahnt von der Polizei verdächtigt wird,
in einen Bankraub verwickelt zu sein, den ihr Bruder begangen haben soll.
Die Spuren am Tatort und die Tatsache, dass Melody durch einen dummen
Zufall mit der Beute des Bankraubs unterwegs ist, scheinen für die
Polizei perfekt zusammen zu passen. Schließlich entsprechen Melody
und ihr Bruder als „schwarze“ Jugendliche aus einer Hochhaussiedlung
am Rande der Stadt doch dem typischen Profil krimineller Jugendlicher.
Doch dann meldet sich der wahre Täter und erpresst Melody um seine
Beute wiederzubekommen. Gemeinsam mit zwei Wegbegleitern versucht sie,
den Fall selbst aufzuklären und die Vorwürfe und Vorurteile
zu beseitigen. Am Ende ergeben die vielen Zufälle und unverhofften
Begegnungen für Melody und ihre Familie einen Weg in ein unabhängiges
Leben.
Kirsten Boie erzählt die Geschichte von Melody, jedoch gibt sie fast
allen auftretenden Figuren eine eigene Stimme. Die multiperspektivische
Erzählweise schärft die Sicht nicht nur für die komplexe
und dynamische Handlung, sondern besonders für die verschiedenen
Figuren mit all ihren Hintergründen und Schicksalen. Dadurch erzählt
der Roman fast nebenbei von Problemen wie sozialer Ungleichheit, der Suche
nach Anerkennung, sowie innerfamiliären Konflikten. Die Vorurteile,
die bei fast allen Figuren bewusst oder unbewusst vorhanden sind, werden
so nicht moralisiert oder bewertet, sondern es wird gezeigt, was sie verursachen
und auch, was möglich ist, wenn ein Umdenken stattfindet. Schwarze
Lügen ist ein packender Kriminalroman für Jugendliche ab 12
Jahren, der es dank der Vielschichtigkeit der Figuren und der altersentsprechenden
Sprache schafft, gesellschaftlich anspruchsvolle und wichtige Themen für
Jugendliche zugänglich zu machen ohne dass die Spannung darunter
leidet. |
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Es
gibt Dinge, die kann man nicht erzählen.
Erzählungen, 112 Seiten, Oetinger Verlag, Hamburg 2013. 12.95€.
Ab 14 Jahren.
Von
Silvia Rosenlund
"Für
dein Leben wünsche ich mir, dass du glücklich wirst. Dass die
Krankheit nicht in dir lauert.“ Mit großer Sensibilität
schildert Kirsten Boie den Alltag von vier Kindern aus Swasiland, in dem
Armut, Krankheit und Verantwortung ganz selbstverständlich sind.
Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen. Diesen
Satz von ihrer Mutter hat Sonto noch im Ohr. Sie ist eins von vier Kindern
aus Swasiland, einem Land, in dem die durchschnittliche Lebenserwartung
31 Jahre beträgt, weil es die höchste HIV-Infektionsraterate
weltweit hat und in dem 45% aller Kinder Waisen sind. Die Geschichten
erzählen davon, wie die Kinder Verantwortung übernehmen: für
die Erziehung ihrer Geschwister, für die Versorgung der Familie,
für all das, was ihre Eltern getan hätten, wenn sie noch da
wären. Aber sie sind nicht mehr da. So geht Thulani nicht zur Schule,
weil er sonst seine Geschwister allein lassen müsste. Lungile verkauft
ihren Körper, damit ihre kleine Schwester zur Schule gehen kann.
Sipho holt jeden Tag Wasser, obwohl das Frauenarbeit ist, aber es ist
keine Frau mehr im Haus. Und Sonto und ihre kleine Schwester wandern stundenlang
durch das Land und hoffen, dass die Schwestern der Krankenstation das
Virus nicht in ihrem Blut finden, damit es ihnen nicht genauso ergeht
wie ihren Eltern. Alle vier Geschichten erzählen vom täglichen
Kampf ums Überleben und davon, dass das für die Kinder in Swasiland
ganz normaler Alltag ist.
Noch ein Buch über Afrika, noch ein Buch über Leid und Armut
der Kinder dort und noch ein Buch, das an das Mitleid der Leser appelliert.
Das könnte man denken bei der Thematik, die Kirsten Boie hier aufnimmt.
Aber dieses Buch gehört nicht dazu. Zum Glück. Trotzdem ist
es schockierend dieses Buch, denn es ist schockierend, was den Kindern
alltäglich passiert. Und all das wirkt so besonders schockierend,
weil Kirsten Boie diese Geschehnisse in eine Sprache verpackt, die man
normalerweise in Büchern für Kleinkinder vermuten würde
und nicht in einem, dass ab 14 Jahren empfohlen wird. Die Kombination
aus Sprache und Inhalt ist hier das Geheimnis. Die Autorin erzählt
mit einer behutsam und poetisch beschreibenden Sprache, die in ihrer Vorsicht,
in ihrer Zaghaftigkeit so gewaltig ist, dass die erschütternden Ereignisse
umso drastischer hervortreten. Sie übertreibt nicht und sie beschönigt
nicht. Wie der Einband so sind auch die Erzählungen daher unaufdringlich
aber sehr ergreifend, abgeschlossen mit einem sehr persönlichen Nachwort.
Kirsten Boie öffnet den Blick für die Realität dieser Kinder.
Eine Realität, die erschreckend ist, aber wahr. Und absolut lesenswert.
Kirsten Boie, 1950 in Hamburg geboren, ist eine der bekanntesten und beliebtesten
deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Neben dem Schreiben widmet
sie sich zahlreichen sozialen Projekten inner- und außerhalb Deutschlands.
Die Themen, mit denen sie dabei in der täglichen Realität konfrontiert
wird, wie Armut, Rassismus oder HIV, spiegeln sich auch in ihren Büchern
wieder.
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Amin
Maalouf
Die
Verunsicherten, Roman, Arche Verlag, Zürich 2014, 544 Seiten,
26,95 €. Aus dem Französischen von Lis Künzli.
von:
„Ich
bin schließlich auf einem Planeten geboren, nicht in einem Land“
empört sich Adam, wenn andere von ihm verlangen, sein Zuhause zu
definieren. Seit 20 Jahren lebt der franko-libanesische Historiker nun
schon in Paris und hat seitdem keinen Fuß mehr in den Libanon gesetzt.
Bis zu dem Tag, an dem er durch einen Anruf erfährt, dass ein alter
Freund im Sterben liegt.
Die persönliche
Komponente dieser Geschichte lässt sich kaum verbergen. Der Schriftsteller
Amin Maalouf ist 1949 im Libanon geboren und lebt seit 1979 in Paris.
Seit seinem ersten veröffentlichten Essay „Der Heilige Krieg
der Barbaren: die Kreuzzüge aus der Sicht der Araber“ beschäftigt
er sich in seinen Büchern vor allem mit unterschiedlichen Sichtweisen
auf die arabische und westliche Welt. Für viele gilt er gewissermaßen
als Sprachrohr für eine Generation, die sich über ihr Weltbürgertum
definieren will.
Im Roman Die Verunsicherten wird Adams Reise in den Libanon zu einer Spurensuche
der Erinnerungen. Er kommt zu spät, um seinen Freund lebend anzutreffen.
Doch einmal vor Ort, wird er von seinen Erinnerungen überwältigt
und beschließt, länger zu bleiben. Lange hat er seine Vergangenheit
verdrängt und nun, innerhalb von 16 Tagen, sucht sie ihn heim, in
Form von alten Briefen, seinen eigenen Tagebucheinträgen und Kontaktaufnahmen
mit lange aus den Augen verlorenen Freunden, die sich seither in alle
Winde verstreut haben. Ihre unterschiedlichsten Lebenswege werden aufgezeigt,
Ansichten prallen aufeinander. Alles läuft auf ein Zusammentreffen
hinaus, das Adam organisiert, doch zu dem es aufgrund eines Autounfalls
nicht mehr kommen soll.
Der Roman besteht aus Fragmenten der Vergangenheit, die in sprunghafter
Form immer genauere Konturen von Adams Studentenzeit im Libanon der 70er
Jahre nachzeichnen. Durch die Tagebucheinträge, in denen Adam seine
frisch gewonnenen Eindrücke festhält, gelingt ein Eintauchen
in seine Gedankenwelt. Die Handlung dreht sich nicht um große Ereignisse,
sondern um einzelne Gedankenstränge, die nach und nach zu einer Geschichte
verwoben werden. Die Präsenz des libanesischen Bürgerkriegs
der 70er Jahre und der nach wie vor anhaltenden ethnischen Konflikte zeigt
sich in ihren Auswirkungen auf die Romanfiguren, ohne durch konkrete Fakten
skizziert und erklärt zu werden. Obwohl auf über 500 Seiten
gerade mal 16 Tage behandelt und konkrete Ereignisse kaum beschrieben
werden, wird der Roman nicht langatmig. Maalouf beschreibt in blumiger
Sprache die Gefühle und Gedanken eines Exilanten und bringt den Leser
dazu, über Vergangenheit und kulturelle Prägung nachzudenken.
Die Figuren werden auf sympathische Weise beschrieben. Ob es sich um eine
lebenslustige Hotelbesitzerin, einen im Kloster lebenden Mönch, einen
in Brasilien lebenden Juden oder einen reichen Geschäftsmann handelt,
man bekommt den Eindruck, sie alle zu kennen und durch den einfühlsamen
Blick des Erzählers, ihr Innenleben begreifen zu können. Bedauerlich
ist die bisher nur dürftige Resonanz im deutschsprachigen Raum, da
Die Verunsicherten ein lesenswertes Buch ist, das eine Welt beschreibt,
die den meisten nur wage bekannt sein dürfte. |
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Jagoda
Marinić
Restaurant
Dalmatia, Hoffmann und Campe, 2013, 19,99 Euro
Von Ana
Hogue
Das Buch
Restaurant Dalmatia, geschrieben von der deutsch-kroatischen Schriftstellerin
Jagoda Marinic, Tochter kroatischer Einwanderer aus Dalmatien, erzählt
die Geschichte der 38-jährigen Mia. Mia Markovich, geboren Mija Markovic,
Tochter eines kroatischen Gastarbeiters in Berlin-Wedding, ist eine Frau
mit zwei Vor- und Nachnamen, mit verschiedenen Herkunfts-, Geburts- und
Wohnorten und sie sucht ihre Identität, ihre Kindheit, ihre Heimat.
Ihr Leben ändert sich ständig, genauso wie die Buchstaben in
ihren Vor- und Nachnamen. Es wird über die zweiwöchige Reise
von Toronto nach Berlin und später nach Dalmatien erzählt. Trotz
ihrer erfolgreichen Karriere in Toronto steht Mias Leben still. Sie begibt
sich auf die Reise in ihre Vergangenheit, um ihre Zukunft weiter leben
zu können. Angekommen in Berlin stellt sie fest, dass sich alles
weiter entwickelt hat, außer ihrem Zufluchtsort der Kindheit, das
Restaurant Dalmatia, das von Ihrer Tante Zora geführt wird. Es stellt
sich heraus, dass zwischen ihr und ihrer Familie eine unsichtbare Mauer
errichtet worden ist. Eine Mauer, wie einst auf dem Foto, das sie als
Kind mit der Polaroid-Kamera ihrer Eltern heimlich geschossen hat. Die
zwei vertrauten Personen, Zora und Jesus, begleiten Mia auf ihrer mentalen
Reise zwischen den verschiedenen Ländern, Städten, Kulturen,
Zeiten, Mentalitäten und Glauben.
Leitmotiv des Romans ist die Mauer. Damit ist nicht nur die historische
Berliner Mauer gemeint, sondern auch eine Mauer in zwischenmenschlichen
Beziehungen. Die Berliner Mauer etabliert sich im Buch als nationaler
Erinnerungsort und darüber hinaus als symbolische Bedeutung für
die latente Grenze, die sich unter Eiwanderern und Deutschen und unter
eigenen Familienmitgliedern konstituiert. Die Suche bekommt für die
Protagonistin eine besondere emotionale, identitätsstiftende Bedeutung.
Die Thematik der Migration wird im Buch sehr präzise repräsentiert.
Man findet sich wieder, indem man versucht eigenes Kulturerbe zu bewahren
und auf dieses aufzubauen: „Natürlich kannst du dich neu erfinden.
Aber nur aus dem Stoff, den du zur Verfügung hast.“
Der Roman wird in 16 Kapitel erzählt, aufgeteilt in verschiedene
Orte und Zeiten. Mit einer eigener Erzählmethode und einem Schreibstil
schafft die Autorin, den Inhalt vielseitig darzustellen: poetisch, in
Dialogen, im Klartext. Redewendungen auf Kroatisch und auf Englisch machen
das Erzählen natürlicher und authentischer. Das Buch erinnert
an eine georgische Ballade über eine Maus, die mit ihrem Dasein unter
der Erde unzufrieden ist. Sie möchte unbeschränkte Freiheit
und strebt danach, unter dem blauen Himmel zu schweben. Nach beständigem
Beten beschert ihr Gott Flügel. Bei ihrem ersehnten Flugversuch wird
sie von den Vögeln nicht wahrgenommen. Zurück zuhause wird sie
auch von den Mäusen nicht mehr akzeptiert, weil sie ihre Sippe verraten
hat. Seitdem sieht sie wie eine Maus aus und fliegt wie ein Vogel, aber
ist keins von beidem, sondern eine Fledermaus, die nachts fliegt und tagsüber
mit den Krallen in einer Hölle kopfüber hängt. Die Gesellschafft
um Mia herum ist nicht reif, Rassentrennung und kulturelle Vorurteile
zu bewältigen. Die Einwanderer, die die kollektiven Erinnerungen
an Unterjochung in ihrem eigenen Land zu vergessen versuchen und in einem
fremden Land ein neues Zuhause gefunden zu haben glauben, bemühen
sich, sich anzupassen, Bindungen zu erzeugen. Am Ende schafft es Mia,
ihre eigene Brücke zu bauen und auf dieser zu stehen. |
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Katja
Petrowskaja
Vielleicht
Esther, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2014, 285 Seiten, 19,95 Euro:
Von Maia
Gvelesiani
So wie Petrowskajas
Erzählerin nach den hebräischen Buchstaben auf dem Pflasterweg
in Kalisz sucht, die aus zersägten jüdischen Grabsteinen stammen
- „Ein System der Vernichtung mit mehrfacher Sicherung“ -
so sucht sie, und findet auch, die Spuren ihrer auf der ganzen Welt zerstreuten
Verwandtschaft und Vorfahren. Eine bewegende Geschichte, deren Protagonisten
nicht nur ein Teil des Buches, sondern auch ein Teil der grausamen geschichtlichen
Wahrheit sind. „Die Vierzehn ergeben mehr als die Tausend.“
Die Rede ist von vierzehn Kriegsgefangenen und Juden, die als Apfelbaumschmuck
zum 14. Geburtstag des Kommandantensohnes im Mauthausener KZ im Jahr 1941
an einem Baum erhängt worden sind. Die Art und Vorstellbarkeit des
Todes macht diese Zahl mächtiger und unvergesslicher. Die Suche nach
einer eigenen Identität basiert auf der Suche nach kollektiver Identität.
Das ist das Leitmotiv des Romans. Wenn man nicht nur nach einzelnen Personen
sucht, sondern nach dem Schicksal der ganzen jüdischen Nation gräbt,
versteht man die einzelnen Schicksäle besser, und findet sich selbst.
Der Leser rennt mit der Großmutter Rosa einem sich in Bewegung setzenden
Zug ins KZ nach; marschiert den Todesmarsch mit Gefangenen nach Mauthausen;
spürt das Ende des zum Tode verurteilten Judas Stern; wird mit Urgroßmutter
Anna und Ljolja in Babijahr erschossen und irrt mit der Urgroßmutter
– vielleicht hieß sie - Esther durch das von Luftangriffen
zerbombte Kiew. Diese Personen leben in Erinnerungen weiter, so dass die
Erzählerin und damit der Leser nie vergisst, welche grausamen Verhängnisse
ihnen widerfahren sind.
Der Roman umfasst eine Rahmen- und mehrere Binnenerzählungen. In
der Rahmenerzählung begibt sich die Hauptfigur auf die Suche nach
Geschichten von ihren Vorfahren und Verwandten. Die Binnenerzählungen
ergeben sich aus diesen Geschichten, erzählt in verschiedenen Zeitspannen
und verschiedenen Räumen. Die Autorin führt den Leser Schritt
für Schritt in ihre Familie ein. Ein Erinnerungsfetzen da, ein von
Fremden erzähltes Ereignis dort, ergeben am Ende die komplizierte
Historie des Heller-Krzewin-Lewi-Stern-Petrowskaja-Owdjenko-Stammes. Die
Familienmitglieder werden nicht nur präzise beschrieben, sondern
auch bildlich dargestellt, was dem Roman Authentizität verleiht und
einen Anspruch auf Wahrheit erhebt. Die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion
ist sehr schmal, fast unsichtbar. Was ist Wahrheit und was ist Fiktion?
Die wahren Begebenheiten, geschmückt mit den einfallsreichen und
stilvollen Schilderungen und mit den pittoresken und gekonnten Beschreibungen,
sind Teil der Erzählfiktion geworden. Die verschiedenen Sprachen
gestalten den Roman authentischer. Die Protagonisten sprechen Russisch,
Polnisch, Hebräisch, Jiddisch, Deutsch, Englisch und Gebärdensprache.
Die Autorin spielt mit den Wörtern, kreiert sie neu: „Ich war
auf den Fikus fixiert, ich war fikussiert“. Außerdem finden
sich im ganzen Text intertextuelle Bezüge zur griechischen Mythologie,
die dem Roman eine abstrakte bzw. orakelhafte Seite verschaffen. Beim
Lesen hat man das Gefühl eine Gedankenkette in einem fremden Kopf
zu verfolgen und wahrzunehmen. Eine Gedankenkette, die immer wieder zwischen
der heutigen Realität und den Erinnerungen aus der Vergangenheit
wechselt. Man geht auf eine anachronistisch gestaltete Zeitreise, die
zwischendurch durch Ansichten und Meinungen der Erzählerin unterbrochen
wird. Mal fungiert sie nur als Beobachterin des Vergangenen, mal ist sie
selbst die Handelnde, mal schlüpft sie in eine Erzählerrolle,
mal gewährt sie den Lesern einen Blick in ihre verworrenen Gedanken.
Verworren wie die Geschichte selbst. |
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Jaroslav Rudiš
Vom
Ende des Punks in Helsinki. 349 Seiten. Luchterhand Verlag. München,
2014. € 14,99.
„Das
ist Punk!“ Jaroslav Rudiš vierter Roman Vom Ende des Punks
in Helsinki zeigt auf, wie schwierig es sein kann, sich nach dem
Leben als Punk in der Gesellschaft zurechtzufinden – besonders wenn
einen die Vergangenheit immer noch verfolgt.
Von Kristin
Krause
Der Mitvierziger
Altpunker Ole, Besitzer der Kneipe Helsinki, lebt seit dem Ende seiner
Punkband Automat, die er gemeinsam mit seinem Jugendfreund Frank gegründet
hat, visionslos in den Tag hinein und vegetiert merklich vor sich hin.
Hinzu kommen seine schmerzlichen Erinnerungen an die junge Punkerin Nancy,
die er als Jugendlicher auf dem ersten Ostblock-Konzert der Toten Hosen
in Pilsen trifft und die beim gemeinsamen Versuch, in den Westen zu fliehen,
erschossen wird. Nachdem seine Kneipe Helsinki auf Grund von Baufälligkeit
vom Stadtamt geschlossen wird, verliert sich Ole zunehmend in diesen Erinnerungen
und wird regelrecht von ihnen verfolgt. Er erkennt, dass seine einzige
Möglichkeit mit diesen Erinnerungen abzuschließen darin liegt,
an den Ort des Geschehens zurückzukehren und so macht er sich auf
die Reise nach Tschechien, die gleichzeitig eine Reise in seine Vergangenheit
ist.
Rudiš nimmt den Leser auf melancholische und ironische Weise auf
diese Reise mit. Dabei fängt er immer wieder beispielhaft die Stimmung
der damaligen Zeit ein, allem voran durch sein rotziges Punkmädchen
Nancy und ihr Tagebuch „Tal der Hohlköpfe“ und bringt
dem Leser so ein Stück Punkrock in die eigenen vier Wände. Nancy
steht dabei beispielhaft für Rudiš Figuren, die sich durch ihre
starken und auffälligen Charakterzüge auszeichnen. Dies zeigt
sich nicht nur durch ihr punkiges Erscheinungsbild, ausstaffiert mit Lederjacke,
Nieten und Sicherheitsnadeln, sondern vor allem durch ihre Sprache. Nancy
spricht und schreibt, wie es ihr gerade in den Sinn kommt, Schimpfwörter
und Fäkalsprache stehen dabei auf der Tagesordnung. Gerade dieser
flapsige Jugendstil macht den Roman so lesenswert und steht im starken
Kontrast zu Ole, dessen Leben im Vergleich umso trister und auswegloser
wirkt. Die Aggressivität und Ironie, mit der Rudiš ihn sprechen
lässt, bestärkt sein tragisches Vor-sich-hin-vegetieren nur
noch mehr. Rudiš eindrucksvolle Bilder verkörpern diese trostlose
Stimmung des Romans ebenfalls und machen immer wieder deutlich, dass man
der eigenen Vergangenheit nicht entfliehen kann, selbst wenn man sie so
systematisch verdrängt wie Ole. Ein weiteres außerordentliches
Merkmal das hervorsticht, ist die besondere Verknüpfung der beiden
Erzählstränge, die erst nebeneinander herlaufen, sich dann jedoch
durch das gemeinsames Ereignis des Konzerts der Toten Hosen verbinden.
So schafft Rudiš, nicht nur durch die Thematik, sondern auch durch
seine außergewöhnliche Sprache und Stil einen eindrucksvollen
Roman, der den Leser durch seine Vielschichtigkeit von Seite zu Seite
aufs Neue reizt.
Jaroslav
Rudiš, geboren am 8. Juni 1982 in Turnov, ist ein künstlerischer
Tausendsassa. Der tschechische Schriftsteller, Dramatiker und Drehbuchautor,
ist neben seiner Schriftstellerei in vielfältigen Bereichen tätig.
So hat er bereits mehrere Theaterstücke verfasst, ein Hörbuch
geschrieben und den Comic Alois Nebel entworfen, der 2013 sogar verfilmt
wurde. Ein weiteres wichtiges künstlerisches Standbein Rudiš
ist seine Kafka Band, die Musik, Literatur und Videokunst vereint.
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Saša
Stanišić Vor
dem Fest, Luchterhand Verlag, 2014, 315 Seiten, Preis der Leipziger
Buchmesse im Bereich Belletristik
“Wir
sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr.”, so beginnt
Saša Stanišic seinen neuen Roman Vor dem Fest. Ein
brillantes Werk, das mit der deutschen Sprache spielt und diese ganz neu
auslegt.
Von
Valentina Ann-Katrin Meyer
Der Autor
ist 1978 in Bosnien und Herzigowina geboren und flüchtete 1992 nach
der Besetzung seiner Heimatstadt Višegrads nach Deutschland. In Heidelberg
studierte er Deutsch als Fremdsprache und Slavistik. Sein Debütroman
Wie der Soldat das Grammofon repariert erschien 2006 und nun folgt der
zweite Roman Vor dem Fest, der auf der Leipziger Buchmesse im Bereich
Belletristik ausgezeichnet wurde.
Zunächst trauert das fiktive uckermarkische Dorf Fürstenfelde
um ihren verstorbenen Fährmann. Jeder im Dorf kennt ihn und jeder
hat eine eigene Geschichte über ihn zu erzählen. Dieser traurige
Anfang wirkt sich aber nicht auf die Stimmung im Roman aus. Hier geht
es vor allem um die Vorfreude auf das Annenfest, welches mit Hilfe des
gesamten Dorfes vorbereitet wird. Nach und nach erfährt der Leser
immer mehr über die im Dorf lebenden Personen. Das erzählende
“Wir” setzt sich aus einer bunten Menge an Menschen zusammen:
Frau Schwermuth, die das Haus der Heimat leitet; Herr Schramm, der eigentlich
nicht mehr leben möchte und auf der ständigen Suche nach Zigaretten
ist; Anna, das junge Mädchen, mit dem Wunsch in Rostock zu studieren;
Frau Kranz, die Malerin und viele andere spannende Charaktere. Anfangs
wird den Figuren im Roman immer ein eigenes Kapitel gewidmet, später
führt Saša Stanišic einzelne Personen zusammen und gibt
ihnen eine gemeinsame Erzählung. Zudem sind viele Geschichten in
dieser Rahmenhandlung zu finden, die von früheren Jahrhunderten in
Fürstenfelde erzählen.
Saša Stanišic fremdelt und spielt in seinem zweiten Roman mit
der deutschen Sprache. Er verändert die Schreibweise einzelner Wörter
und stellt somit eine Mischung aus altdeutschem Schreibstil und neuer
fiktiver Sprachvariation dar. Durch seinen migratorischen Hintergrund
und sein Studium entwickelt Saša Stanišic in diesem Roman eine
ganz neue Art zu schreiben. Diese verleiht dem Buch einen gewissen Pep,
fesselt den Leser und fordert ihn zugleich. Somit wird das Lesen nie langweilig.
Die vielen einzelnen Geschichten von Charakteren, Schicksal, Sorge und
Not um die Zukunft, die immer näher kommende Globalisierung fügen
sich zu einem lebendigen Bild des uckermarkischen Fürstenfeldes zusammen.
Im Dorf geht es nicht hektisch zu, wie in einer Großstadt, nein,
dort ist es gesellig und manchmal dauert alles etwas länger. Genau
das drückt Saša Stanišic auch in seinem Schreibstil aus,
oftmals neigt der Roman zu gekonnten Längen. Durch all diese Einzelheiten
bekommt der Leser einen detaillierten Einblick in das Leben auf dem Dorf,
einen kleinen Eindruck von dem schwierigen Begriff der Heimat aber auch
eine Vorstellung von der Geselligkeit, von Mythen und Geschichten und
von der Zusammenarbeit der Fürstenfelder.
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Deniz
Utlu Die
Ungehaltenen, Roman, Graf Verlag, München, 2014, 240 Seiten,
18,00 Euro
„Mit
den Zähnen zog ich den Stift aus der Handdrohne, die ich noch aus
dem Dritten Weltkrieg hatte, und ließ sie dem Moderator in den vor
Schreck offenen Mund fliegen“ - Ungehalten ist ein sehr milder Ausdruck
für das, was in Elyas, dem Protagonisten des Erstlingswerkes von
Deniz Utlu vorgeht. Sind Gewaltphantasien,
Wut und das Gefühl von Leere das einzige was dem jungen Elyas bleiben?
von
Sebastian Klaßen
Müde
und erschöpft von sozialen und gesellschaftlichen Ritualen ergibt
er sich immer weiter seiner Apathie und steigert sich zunehmend in aggressive
imaginäre Szenarien, die er gegen seine Mitmenschen und die Gesellschaft
als Ganze richtet. Im Roman wird dessen täglicher Lebensablauf geschildert,
welcher zunehmend immer absurder, ungeordneter und realitätsfremder
wird. Elyas geht Fragen von Zugehörigkeit in der Gesellschaft und
dem verlorenen Heimatgefühl nach. Nacheinander brechen seine sozialen
Kontakte zu Freunden und Familie ab und selbst sein vielversprechendes
Jurastudium setzt er nicht weiter fort. Nach dem Tod seines schwerkranken
Vaters und der Reise der Mutter in die Türkei nimmt er Kontakt zu
Aylin auf, einer jungen Ärztin, der er auf der 50. Jahrfeier zum
Anwerbeabkommen näherkommt und welche ein ähnliches Schicksal
wie Elyas teilt. Seine Gewaltphantasien nehmen an Absurdität zu,
bleiben jedoch ohne Konsequenzen. Nach dem Tod von Aylins eigenem Vater
reisen die beiden in die Türkei, auf der Suche nach einer Gesellschaft,
der sie sich zugehörig fühlen. Dennoch finden sie auch in der
Heimat der Eltern nicht ihren Platz und werden auch dort als Fremde behandelt.
Schließlich kehrt Elyas nach Berlin zurück, augenscheinlich
gereift und ruhiger, aber ohne Aylin. Es endet dort, wo alles begann –
mit Onkel Cemal, der es geschafft hat aus der Vergangenheit zu lernen
und damit in die Zukunft zu treten.
Während die erste Hälfte des Romans vor allem durch seine poetische
und eindringliche Sprache besticht, die einen geradezu einlädt, mit
Elyas durch Berlin und seine Gedankenwelt zu hasten, verflacht der Plot
mit der Reise der Protagonisten in die Heimat der Eltern. Das Narrativ
wirkt im Vergleich zur ersten Hälfte zäher und langatmiger,
die Figuren erscheinen blasser und verlieren ihre vormals beeindruckende
Tiefe. Der Leser, anfangs noch durch Elyas Gewaltphantasien gepackt, verkommt
zum Mitreisenden auf einem zu künstlich aufgebauschten Road-Trip
durch die Orte der Vergangenheit der Eltern. Eine Stärke des Romans
ist wie Elyas, als authentische, clevere aber auch irrationale und depressiver
Figur, sich reflektierend durch andere Figuren auch zwischen Gegenwart
und Vergangenheit bewegt. Er regt an darüber nachzudenken, was man
daraus für die eigene Zukunft mitnehmen kann. Die eingangs erwähnten
großen Fragen nach Zugehörigkeit und der Rolle des Individuums
in der Gesellschaft bleiben jedoch offen. Vielmehr motiviert der Autor
eine ganze Generation, sich mit diesen Fragen zu konfrontieren und die
eigene Aufgabe zu hinterfragen.
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