Decamerone – Rena Dumont

© Fotograf

Der fliegende Pharao

Eine Kurzgeschichte von Rena Dumont

Für die Festkleidung, die der Vater bei seiner Beerdigung anzuhaben wünschte, hatte er lange gespart. Er war, wie er scherzhaft erwähnte auf den Tod vorbereitet. Karl, sein Sohn, entnahm das zusammengelegte Bündel aus der Truhe und hoffte, dass die Mäuse den Anzug verschont hatten. Auch sein Bruder Franz inspizierte ihn. Sie breiteten die einzelnen Kleidungsstücke auf dem Boden aus. Ein weißes Hemd, eine Fliege, ein schwarzer Anzug, schwarze Lederschuhe und der Hut, dessen winzige Mottenlöcher mit einem schwarzen Band kaschiert wurden. Bis auf den Mäusekot schien die Kleidung heil zu sein.
Mutter versuchte Vaters Arme zu heben, um ihn zu waschen, während sich Franz an seinen Füssen zu schaffen machte.

„Ich kann ihn keinen Deut bewegen, verflucht nochmal, er ist wie aus Stahl.“

Die Söhne sahen der Mutter verblüfft zu, wie emotionslos sie mit der Bredouille umging.

„Soll ich?“, bot ihr Karl an und packte Vaters Handgelenk. „Wie eisig.“ Ihm schauderte. Mutter hatte recht. Der Vater war eben schon immer unbeugsam.

„So wird das mit dem Anziehen nichts. Müssen wir ihn überhaupt umziehen?“, fragte Franz, woraufhin Mutter mit böse Mine zischte:

„Natürlich, du Tölpel, wenn das der Herr Pfarrer sieht, lässt er ihn nicht beerdigen!“

„Und wie machen das die anderen?“

„Die anderen sterben im Sommer.“

Karl musste innerlich schmunzeln, die Mutter hatte offensichtlich mit seinem Tod die Fassade fallen lassen, ihr schwarzer Humor brach sich Bahn. Sie atmete schwer, plötzlich tropften heiße Tränen auf den eiskalten Körper, sie wendete sich ab, ihr sei schwindelig, sagte sie. Karl hatte sie falsch eingeschätzt. Er erledigte die Waschung mit Franz allein. Ihnen war speiübel.

„Karl, wir können auch nur so tun, als würden wir ihn umziehen. Wenn wir ihn in Leinentücher einwickeln, sieht es sowieso keiner.

„Das kommt nicht in Frage!“, antwortete Karl mit empörter Entschiedenheit. Aber wenn er ganz tief in seinem Innern grub, wünschte er dasselbe.

„Komm, er ist tot. Ihm ist es längst egal. Oder glaubst du an den ganzen Unsinn? Was Gott von mir denkt, ist mir ehrlich gesagt schnuppe.“

„Franz! Genug!“

Karl versuchte das Hemd über den Arm zu streifen. Der leichte Stoff war porös und riss. Die grünliche Hautfarbe löste in ihm vom Neuen Brechreiz aus, dem Leichengeruch war er nicht gewachsen. Er blickte zu Franz und nickte. Schweigend packten sie den ausgedörrten Körper in doppeltgelegte Leinen, damit ja nichts von ihm zu sehen war. Sie verschnürten ihn mit Spagat und legten ihn wieder auf das Brett. Vater sah aus, wie ein ägyptischer Pharao. Wegen ihrer ketzerischen Tat bekreuzigten sie sich und baten um Vergebung. Der Aberglaube. Die Gewohnheit. Vaters Festkleidung versteckten sie auf dem Speicher in einen aussortierten Graupensieb. Etwas Gerümpel obendrauf. Bei Gelegenheit würden sie ein kleines Feuer machen und das Zeug verbrennen. Ihre Mutter würde es verzeihen, Vater sammelte jeden Nagel, der Speicher glich einem prähistorischen Museum.

„So soll es sein.“, tröstete sich Karl.

Karl öffnete die Luke zum Speicher.

„Lasst das Brett sein, nehmt ihn Huckepack!“, befahl die Mutter, die mit Argusaugen von unten spähte. Sie hatte recht, die Öffnung war schmal, die Leiter wackelig. Karl stieg vorsichtig die Stufen hinab, hielt den Verstorbenen an den Schultern, Franz hinter ihm, des Vaters Füsse fest im Griff. In der Küche stand der Sarg bereit, mit Blumen und Tannenzweigen geschmückt, mit Satin ausgekleidet, eine Augenweide. Die Trauergäste in der Küche machten Karl nervös, er konnte den Trubel nicht ab. Als sie eintraten, herrschte Schweigen, gesenkte Blicke, die Mützen ergebungsvoll in den Händen. Wo waren sie, als er gelebt hat? Sie konnten ihn kaum gekannt haben, oder hatte unser Vater ein Doppelleben geführt? Sie gewährten ihnen eine Gasse frei, damit Vaters Hülle in den Sarg gelegt werden konnte.

„Jesus Christus.“, entfuhr es der Mutter. Sie bekreuzigte sich, Karl begriff sofort. Auch Franz starrte entgeistert auf die Misere, er war kurz davor loszuprusten. Vaters Füsse ragten aus dem Sarg, als wäre er glatte zehn Zentimeter gewachsen. Jetzt war ein guter Rat teuer, so konnten sie den Deckel niemals drauflegen. Mutter schickte Karl einen vernichtenden Blick. Gewiss würde er ihr erklären müssen, wieso man ihm zu kurze Ware angedreht hatte. Leider wusste er es selber nicht. Wie eine Furie scheuchte Mutter alle Anwesenden aus der Küche, auch die Betagten, die sich kaum auf Beinen halten konnten, um sich dem hinauswachsenden Problem zu stellen. Nur die Söhne dürften ihr zusehen.

„Mit dir habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen!“, ermahnte sie Karl erbost. „Los, presst ihn hinein! Bricht ihm die Haxen von mir aus, er muss rein!“

Sechs Arme hantierten nun an dem Toten. Sie keuchten wie die Waldarbeiter. Der Vater wurde hin und her und her und hin geschoben. Sie versuchten ihn zu biegen, zu neigen, zu brechen oder zu knicken, egal, sie versuchten aus ihm ein S zu formen, ihr Wille jede Materie zu zerstören war unerschütterlich. KRAKKS!
Erleichtert ihm das Genick gebrochen zu haben, legten sie den Widerspenstigen endlich in die Kiste. Zwar mit geknicktem Hals, doch komplett, wie bei einem schlafenden Erwachsenen in einem Kinderbett. Deckel zu, alle drei atmeten tief durch.

„Ich habe schon gedacht, dass wir ihm die Füsse absägen müssen.“, murmelte die Mutter trocken. Franz ließ die halberfrorenen Gäste wieder rein. Sie waren ungeduldig, wollten ihre Heiligenbilder und Präsente, die der Vater im Diesseits gut hätte gebrauchen können, in den Sarg legen, doch Mutter drängelte sich rabiat dazwischen, um den Sargdeckel nur einen spaltbreit anzuheben. Sie riss die Totengaben aus ihren Händen und pfefferte sie achtlos durch den schmalen Spalt in den Sarg. In Erwartung eines Nachzüglers verharrte sie noch einigen Augenblick, murmelte bedeutungsloses Zeug und nickte zustimmend mit dem Kopf.

„So…endlich…so.“ Irritierte Blicke interessierten sie nicht mehr. Alle waren froh, wenn es voranging. Zu viert hievte man den Sarg aus der Küche, Schwester Terese mit ihrem Mann und auch Mathias waren inzwischen angekommen und halfen mit. An der Türschwelle wurde dreimal aufs Holz geklopft, zum Zeichen des endgültigen Abschieds. Die Weiber heulten im Chor, bis Mutters Stimme wie eine Machete durch den Raum schnitt.

„Nein! Dreht den Sarg um! Er muss aus dem Haus mit den Füssen zuerst getragen werden, damit er nicht zurückkommt!“, dabei stampfte sie mit der Hacke in den Boden.

Man gehorchte. Das wollten sie alle nicht. Draussen im Hof wartete bereits die Pferdekutsche mit dem Kutscher, der einen schwarzen Anzug und Zylinder trug. Weiße Blumen aus Papier zierten den Sarg, nicht gerade ein ominöses Sargbukett, aber im März frische Blumen aufzutreiben war unmöglich. Das müsste genügen. So verwelkte nichts und mit dem Efeu zusammen, hatte man ein Gefühl von einem feierlichen Anlass. Ein mittelgroßer Kranz thronte obenauf in düsterer Ernsthaftigkeit. Karl hatte ihn in Čestice von einem Bekannten günstig erworben, nachdem er seinen Bruder beerdigt hatte, aber das musste niemand wissen. Er hatte nicht einmal die Schleife ausgewechselt. Mutter wusste nichts davon. Auf den Chor wurde verzichtet und das war gut so. Vater mochte keine Musik, bestimmte die Mutter. Die Gäste waren allmählich draussen, sie tummelten sich im Hof, während man den Sarg samt Bahre auf die Pritsche legte. Die Stuten zogen an, alles erzitterte, doch bewegt hatte sich nichts. Die Räder steckten in tiefem Matsch aus Eis und nassem Schnee fest, vermutlich festgefroren. Vor zwei Stunden hatte es zu schneien begonnen, wie seit Weihnachten nicht mehr. Man hatte das Gefühl, dass dieser Winter nie aufhören wollte. Der Kutscher ließ die Peitsche schwingen, schlug die wiehernden Tiere, doch die Wetterbedingungen machten ihnen zu schaffen. Ihre Hufen fanden keinen Halt, sie konnten einem leidtun. Die Zuschauer scharrten mit den Füssen, Karl mochte sie am liebsten vor Wut anschreien. Ohne Mutters Einwilligung abzuwarten, holten die Brüder den Schlitten aus dem Schuppen. Die Zeit war knapp, der Herr Pfarrer hatte sie gebeten noch vor dem Mittagessen zu erscheinen. So trennten sie das Gespann von den Stuten und koppelten den Schlitten an den Haken.

„Heioooo!“ Endlich kamen sie vorwärts, den mittelgroßen Hügel hoch, Richtung Dorf. Auf der Hälfte der Anhöhe ruckelte es, der schmale Weg zum Dorf war steil, als der Sarg plötzlich vom Schlitten rutschte. Karl konnte kaum hinsehen. Rumpelnd verabschiedete er sich auf dem vereisten Weg von dem Trauerzug, die Gäste schrieen vor Entsetzen auf. Sie sprangen auseinander, während der tote Vater durch die Menge unverhohlen hindurch schoss, einem Bob gleich, zurück zur Mühle. Die Trauernden sahen dem Unheil untätig zu, immer noch im Kampf mit der verflixten Eisfläche.

„Rettet den Toten, rettet den Toten!“, krächzte Mutter, was paradox klang, im Angesicht dessen, was da zu retten war. Der Efeu riss ab, die Papierblumen flogen davon und Karl sah mit abgeklärter Stumpfheit zu, wie der hölzerne Kasten auf dem holprigen Weg das tat, was er nie hätte tun sollen. Er ging auf und Vater glitt aus dem Sarg! Der eingepackte Pharao flitzte davon, samt allen Devotionalien!

„Himmel!“, riefen die Trauernden. Wie von Gottes Hand geführt rutschte der eigewickelte Leichnam mit der Füßen zuerst einige Meter vor der Mühle in ein Gestrüpp. Das war Gottes Strafe für die zurückgelassene Kleidung auf dem Speicher, dachte Karl. Franz sah ihn betroffen an. Für die Mutter hatte es Zwölf geschlagen, aufgelöst sank sie zu Boden und bekreuzigte sich, flehend hielt sie die Arme zum Himmel, die Zuschauer starrten sie an.

„Oh, Gott! Er will nicht gehen!“,  zeterte sie bis ihre Stimme versagte.

Dann wurde es still, niemand wagte auch nur zu atmen. Franz und Karl hasteten zum Sarg und packten den Ausreisser dorthin zurück wo er hingehörte. Zum Glück war der Sarg heil geblieben. Wieder bog und quetschte man den Toten bis er passte. Die Geheimnistuerei war zerbarst, alle wussten Bescheid, dass der Vater in einen viel zu kleinen Sarg lag. Die Brüder warfen achtlos und hastig alles was zum Vater zu gehören schien in den Sarg und hievten ihn zum drittelmal hoch. Aller guten Dinge sind drei, dachte Karl. Diesmal banden sie die Fracht fest.

In der Kirche war es bitterkalt und die Glocken schwiegen, als der Leichenzug bei der Kirche eintraf. Sie waren zu spät. Der Herr Pfarrer nahm gerade das Mittagessen zu sich, man hatte zu warten. Die Hälfte der Trauernden war bereits geflohen, die verstörenden Eindrücke des eben Erlebten waren zu viel für sie.

Gegen ein Uhr, nachdem der Herr Pfarrer seinen Kaffee gehabt hatte, ging alles Schlag auf Schlag. Nach einer kurzen Trauerrede, trat die Mutter aus der Reihe, ließ sich von den verbliebenen Trauergästen ein herzliches Beileid wünschen und schritt voran. Sie wartete nicht einmal ab, bis der Sarg geschultert war. Vor der Kirche folgte tröstendes Händeschütteln, doch Mutter sah nichts und niemand, sie weinte nicht, sie war stumpf. Sie wollte heim.