Decamerone – Artur Becker
© Fotograf
God’s Window in den Drachenbergen
von Artur Becker
»The White man is the master in South Africa, and the white man, from the very nature of his origins, from the very nature of his birth, and from the very nature of his guardianship, will remain master in South Africa to the end.«
Auf einem Schild im Apartheid Museum in Johannesburg (2018)
Ich werfe einen Blick in meinen schwarzen Moleskine-Kalender und stelle fest, dass die drei Avocadobaumblätter, die mir Glück bringen sollen, nach wie vor quicklebendig aussehen und nur langsam trocknen. Aber wir haben viel Zeit!, beruhige ich mich und die saftigen Blätter und meine beiden Freunde, den Südafrikaner Itumeleng »Tumi« Mokgope und den Chilenen Dr. Rodrigo Naranjo.
Am Flughafen von Johannesburg holen wir endlich unseren Leihwagen ab. Wir wollen für zehn Tage den südafrikanischen Frühling im September auskosten. Wir werden uns auf den Weg in entlegene und weltbekannte Provinzen Südafrikas machen: nach Mpumalanga und Limpopo, wo auch Tumis Verwandtschaft lebt. Wir werden sie besuchen, und wir wollen uns von den beiden Großstädten Johannesburg und Pretoria ein wenig erholen, zumal wir uns auch in Soweto und anderen Townships herumgetrieben und sattgesehen haben.
Die herrlichen Weiten Südafrikas, die gigantischen Canyons, die ewig grünen Berge mit den Regenwäldern, die sauberen Flüsse (was ich eigentlich nicht mehr glauben kann), die scharlachroten Felsen, von denen Tumi vor der Reise so inbrünstig geschwärmt hat, um uns den Ausflug schmackhaft zu machen, rufen uns verführerisch, und selbst der berühmte Kruger-Nationalpark und seine Wildnis wollen wir endlich hautnah erleben. Die Löwen sollen auch uns bei lebendigem Leib verspeisen, lachen wir, denn Horrorgeschichten über leichtsinnige Touristen aus China oder hiesige Wilderer, die den Kruger-Park unerschrocken Jahr für Jahr aufsuchen, sind hier zahlreich; es blieben von ihnen dann oft nur Totenschädel und Schuhe übrig. Aber mehr besitzen wir drei eigentlich auch nicht.
Dabei war uns der Abschied von Johannesburg gar nicht so leicht gefallen. Schließlich mussten wir uns auch von unserer Freundin Indra Wussow trennen, die Rodrigo und mich nach Südafrika eingeladen hat, und zwar mehr oder weniger aus einem Grund: Wir fragen uns, ob Versöhnung zwischen Tätern und Opfern möglich sei; das ist nämlich unser Projekt, das sich Indra, die Kuratorin der Johannesburger Sylt Fundation, für Künstler und Schriftsteller ausgedacht hat – wohlwissend, wie kompliziert unsere Biografien und Identitäten sind. Deshalb lautet auch der vollständige Name dieses internationalen Projektes »Transformation und Identität, Trauma und Versöhnung«.
Rodrigo kommt aus Santiago de Chile, er ist fast fünfzig und hat die Diktatur von Pinochet überlebt. Ich mit einundfünfzig Jahren auf dem polnischen Buckel und seit 1985 in der BRD lebend habe die Diktatur von General Jaruzelski kennengelernt – im polnischen Sozialismus, in dem ich als Kind des 1981 eingeführten Kriegsrechts aufgewachsen bin. Tumi, geboren 1968, ist mein Jahrgang: Die Apartheid hat auch zu seinem Leben einen wesentlichen Teil des Drehbuchs geschrieben – Folter und Gewalt, Transformation und Neuaufbruch hat er wie durch ein Wunder gesund überstanden. Er ist nicht nur Indras guter Freund, sondern in ihrer Stiftung auch ihr treuer Kollege, und Indra kommt aus Deutschland, und Deutschland bedeutet vor allem eines (wovon ich natürlich auch ein Lied singen kann): die nicht aufhören wollende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.
Und so sind wir alle gebrandmarkt, denn jeder von uns trägt sein eigenes, unverwechselbares Zeichen der Weltgeschichte auf der Stirn. Das ist also unsere Sternenkonstellation oder, kurz gesagt, Schicksalsgemeinschaft, die uns in diesem wunderbaren und gleichzeitig durch die faschistische Diktatur der Apartheid tief verwundeten Land für ein paar Wochen zusammengeschweißt hat.
Und bevor wir uns gleich in den Leihwagen setzen und zu Tumis Tante Herlina fahren werden, die in dem Städtchen Acornhoek in der Nähe des Kruger-Nationalparks wohnt, kaufen wir erst einmal auf der Tankstelle für die lange Autofahrt Wasser, Cola und Proviant. Wir tanken den Wagen voll, Tumi ist unser Chauffeur, und ich rechne im Kopf Rand in Euro nicht mehr um. Ich weiß, dass ich viel zu viel Geld ausgebe, das ich als Schriftsteller eigentlich nicht habe.
Meine Kreditkarte funktioniert jedoch zuverlässig, obwohl ich natürlich nach meiner Rückkehr nach Europa die monatliche Kreditkartenabrechnung in der untersten Schublade meines Schreibtisches ganz tief verstecken werde. Schade, dass ich sie nicht Donald Trump schicken kann – wie einen Strafzettel für Geschwindigkeitsüberschreitung –, denke ich und erzähle im nächsten Moment Tumi und Rodrigo von meiner absurden Idee. Es wäre jedenfalls für den großen blonden Mann im roten Schlips eine Möglichkeit gewesen, Buße zu tun: für all die rassistischen Beleidigungen der »Blacks«. Tumi, der immer wieder betont, dass er in Soweto evangelisch aufgewachsen sei, nennt mich daraufhin liebevoll »The Catholic Pope«.
Auf der Fahrt zum Flughafen hatte Tumi uns gefragt, ob Luther Deutscher gewesen sei, und seine Frage verwunderte weder Rodrigo noch mich. Denn was wissen wir schon über Südafrika? Natürlich, wir kennen den Musiker und »Weißen Zulu« Johnny Clegg; wir kennen den Dissidenten und Gründer der Black-Consciousness-Bewegung Steve Biko und seine tragische Gefängnisgeschichte; wir kennen auch das weltweit bekannte Foto des Fotografen Sam Nzima, das er am 16. Juni 1976 während des Massakers in Soweto von dem zwölfjährigen Schüler Hector Pieterson geschossen hat, der von einer Polizeikugel getötet wurde; und wir haben im Apartheid Museum in Joburg lange Stunden verbracht, und da Rodrigo von Beruf Philosoph ist und sich in seinen Texten und Büchern oft mit politischen Gefangenen auseinandersetzt, um durch das Studium der Zeugenaussagen und der historischen Dokumente die letzten Mythen, die sich um den Kolonialismus in Lateinamerika ranken, wegzublasen wie Staub (»zu dekonstruieren« ist sein Lieblingsausdruck), ist das Thema der rassistischen Unterdrückung in unseren Gesprächen jeden Tag präsent. Und in Kliptown zum Beispiel, einem zu Soweto und Johannesburg gehörenden Elendsviertel, hatte uns Tumis Bekannter, ein gewisser Bob, erzählt, Nelson Mandela sei ein Verräter gewesen, da er heiß servierten Tee im Gefängnis geschlürft, seine eigene Toilette besessen und schöne Briefe geschrieben habe, während die »einfachen Leute« in den Townships und in Kliptown physisch und psychisch vor die Hunde gegangen seien, in totaler Armut, in Angst vor dem Hunger und dem Tod aus der Hand der weißen Faschisten; gegen Lech Wałęsa werden in seiner Heimat ähnliche Vorwürfe erhoben – er sei ein Verräter des polnischen Volkes, er habe während der Streiks als Agent im Auftrag des kommunistischen Geheimdienstes gehandelt.
In solchen Zeiten müssen wir alle leben, in denen Helden zu Antihelden und sogar Verbrechern gemacht werden. In Wahrheit wissen wir alle sehr wenig, und die meisten tragen in sich ein Halbwissen, hatte ich nach dem Gespräch mit Bob gedacht, der in Kliptown die Rolle des Paten spielt, vor allem für junge Leute, wobei Bob Marleys Musik und Joints zu seinen wichtigsten Verbündeten zählen.
Es war mir jedenfalls auf der Taxifahrt zum Flughafen gelungen, meine beiden Freunde zum Lachen zu bringen, wenigstens für ein paar glückselige Minuten: »Luther war Ostdeutscher und heute würde er die AfD wählen!
«Und in dem feierlichen Moment, als wir den Flughafen von Joburg hinter uns lassen, sagt Tumi, dass unsere Reise keine gewöhnliche Safari sei, ebenso keine Weinprobetour, zumal wir keine gewöhnlichen Gäste seien, sondern Indras Freunde und obendrein ihre Schriftsteller, die über Chile und Südafrika schrieben – über Täter und Opfer, über Schuld und Sühne, über Trauma und Erlösung. Die Weinprobe werde uns jedoch nicht weglaufen, tröstet er uns, wir seien bestimmt nicht das letzte Mal zu Besuch in Südafrika. Er habe nämlich in der Heimat seiner Familie und Verwandtschaft etwas Wichtiges zu erledigen, es gehe um seinen vor zwei Jahren schon verstorbenen Vater, der leider auf einem Friedhof in Johannesburg beerdigt worden sei und nicht an seinem Geburtsort, was wiederum gegen die Tradition und den Glauben seines Volkes verstoße. Er müsse diese Angelegenheit endlich regeln und werde den Dorfvorsteher, der sein Volk vertrete, treffen. Von ihm werde er alle notwendigen Dokumente für die Exhumierung und Umbettung des Leichnams des Vaters erhalten – für dessen Rückkehr an seinen Geburtsort. Ich frage: »Ist das alles vom Staat abgesegnet, so’ne Umbettung?« Tumis Finger umklammern das Lenkrad noch fester, als wollte er es herausreißen. »Was denkst du denn!?«, fragt er. »Wir sind keine Bananenrepublik!«
Die Dokumente für die Umpflanzung seien sogar vom König seines Volkes unterzeichnet worden, fügt er nach kurzem Schweigen hinzu, wie es der Staat fordere … Doch das wichtigste Schreiben, eine Art Empfehlung, habe sein Onkel besorgt – es sei ein Brief des Königs, von ihm persönlich formuliert und unterzeichnet. »Welchen Königs?«, fragen wir mächtig beeindruckt. »Na, des Königs, der unser Volk repräsentiert! Er ist unser Ansprechpartner in allen schwierigen Angelegenheiten. Jeder Volksstamm hat seine eigenen Regeln und Gesetze, und der König beschützt uns vor dem manchmal schlampig auftretenden Staat.« – »Vor dem säkularisierten Staat«, ergänzt Rodrigo besserwisserisch, was Tumi nickend bejaht.
Rodrigo wird stets sofort wach, sobald es um Verfassungsfragen geht – ich auch, und zwar seit der Verfassungskrise in Polen. Und ausgerechnet am Tag der Besichtigung des Verfassungsgerichts in Johannesburg, mit der wir unsere erste gemeinsame Woche in der größten Stadt Südafrikas begonnen hatten, wurde der Cannabiskonsum in diesem Land offiziell erlaubt, was uns freut, obwohl wir keine Kiffer sind. Bei der Besichtigungstour durch das moderne, künstlerisch aufwendig gestaltete Gebäude, in dem sich der Geist der südafrikanischen Natur erkennbar widerspiegeln sollte, was durchaus gelungen ist, steckte man uns ein buntscheckiges Heftchen in die Hand, die südafrikanische Verfassung. Das Spotten von Rodrigo und Tumi werde ich nie vergessen, weil sie sagten, dass in meiner Heimat die Verfassung mit Füßen getreten werde – in Südafrika nicht! Ich sprang meinen beiden Freunden nicht an die Gurgel: Allerdings schämte ich mich in dem Moment des bösen Spottes für einige endlose Sekunden dafür, dass ein europäisches Land von solcher Größe und Bedeutung aufgrund rechts- und nationalkonservativer Neuausrichtung der Politik in juristische und konstitutionelle Turbulenzen geraten ist – mitten in Europa. Und ich erwartete keinen Trost von meinen beiden Freunden, um etwa meinem Schamgefühl zu entfliehen: Ich beschloss an dem Tag, mich noch lange darin zu suhlen.
Jedenfalls freut es Rodrigo und mich, dass die Verfassung Südafrikas auch die Toten der indigenen Bevölkerung beschützt – und vor allem ihr Totenreich.
Tumi erklärt uns den Ahnenkult bei seinem Volk. Der Verstorbene könne nur dann Ruhe im Totenreich finden, wenn er in der Erde, die ihn geboren habe, auch wieder beerdigt werde. Und er bittet uns um Verständnis dafür, dass er unsere Safaritour für die Lösung seiner privaten Probleme nutzen müsse, doch wir antworten lediglich, dass wir ihn bei all seinen Besuchen und behördlichen Gängen gerne begleiten und unterstützen würden, natürlich, wenn es ihn nicht störe. Er lächelt zufrieden, eine andere Reaktion hat er nicht erwartet, da er weiß, dass wir ohne ihn als zwei Blinde und Taube in den beiden Provinzen Mpumalanga und Limpopo unterwegs gewesen wären.
Außerdem hätten wir eine Einladung bekommen, sagt Tumi, von dem großen Dichter und bekannten Literaturprofessor Vonani Bila aus der Provinz Limpopo. Und Bila lebe mehr oder weniger im grünen Paradies der Täler und Hügel – unter Orangen- und Bananenbäumen der fruchtbaren roten Erde Limpopos.
Wir fahren an einem Polizeikontrollposten vorbei, Rodrigo und ich sind an diesem frühen Morgen nüchtern, wir haben zudem ausländische Pässe, und Tumi trinkt selten Rotwein, am liebsten nur Cola. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches, solch eine Polizeikontrolle, doch Staatsbeamte in Uniformen wecken in uns drei keine guten Erinnerungen.
Rodrigo und ich lieben den chilenischen Himmel über der Pazifikküste – speziell im Sommer, wenn er am Vormittag ganz klar und voller Bläue und stechend erfrischender Luft ist.
Aber in Südafrika ist der Himmel unermesslich groß und geheimnisvoll, weil er sich auch – wie es in der Sci-Fi-Serie Star Trek heißt – mit den »unendlichen Weiten des Universums« (lies: des Kontinents Afrika) verbindet. Und wir sind bloß auf der Autobahn unterwegs, von Johannesburg nach Pretoria, wir fragen uns nämlich, wie es wohl in den Bergen und Tälern aussehen mag, da Tumi uns gesagt hat, bei gutem Wetter reiche der Blick bis nach Mosambik, wenn man zum Beispiel im Osten der Provinz Mpumalanga auf einem der Gipfel der dortigen Drachenberge (Afr. Drakensberge) stehe, genau genommen auf der Aussichtsplattform, die God’s Window heiße. Wir sind begeistert. Und neugierig.
Doch im Moment können wir Gott samt seinem weltlichen Fenster nirgendwo entdecken. Im Gegenteil: Entlang der Autobahn von Johannesburg nach Pretoria sieht man zahlreiche Fabriken und Hallen für Waren aus aller Herren Länder. Die internationalen Firmen stammen vor allem aus Deutschland und den USA, aber auch Japaner und Holländer dürfen sich von dieser globalen Torte ein Stück abschneiden. Tumi wird plötzlich wütend: »Ich verstehe nicht, was das Goethe-Institut bei uns zu suchen hat?« Er macht sich Sorgen beim Anblick der deutschen Firmennamen: Siemens, DHL, DB, Mercedes und so weiter – Goethe dürfe bei dieser Aufzählung natürlich nicht fehlen, so Tumi. Ich antworte ihm: »Red doch nicht so plump wie nationalkonservative Populisten aus Polen und Ungarn. Oder wie die Anhänger Putins.« Aber ich verstehe seine Angst vor dem unsichtbaren Postkolonialismus der »flüchtigen Moderne« (Zygmunt Bauman), der vorgibt, ein menschliches Antlitz zu besitzen.
Wir verlassen die Umgebung von Pretoria, die Natur wird gewaltiger und wilder, die Landschaft besteht vor allem aus riesigen Weide- und Anbauflächen. Tumi sagt auf einmal: »Schaut, wir ernähren euch in Europa! Wir schicken euch nicht nur Bananen, sondern auch Mais und Weizen!« Tumi genießt manchmal seine Rolle des Einheimischen, des Landeskündigen, des Zeremonienmeisters, der sein Land im besten Licht darstellen will. Er ist stolz auf seine Heimat: auf die Natur und die Farmen, wem auch immer sie gehören (wobei sie faktisch den Weißen und den Burennachfahren gehören). Er hasst es, wenn der schwarze Kontinent – der diesen Namen eigentlich nicht verdient, da er buntscheckig ist, schwarz violett und sogar dunkelrot erscheinen kann – auf wenige Themen, die weltweit in den Medien konsumiert werden, reduziert wird: Krankheiten, Ebola, Flüchtlinge, Bürgerkriege. »Bei uns gibt’s keine Krankheiten, vor denen ihr Angst haben müsstet«, sagt er. »Und wir haben unsere eigenen Flüchtlinge, sie kommen aus Simbabwe oder Mosambik. Wir sind doch ein reiches Land. Wir haben ja alles! Wir müssen nur unseren Leuten aus den Townships Jobs besorgen!«
Tumi hat uns gleich in der ersten Woche unseres Aufenthaltes bei Indra in Johannesburg auch von seinen Tagen in der Gefangenschaft erzählt. In seiner Jugend wurde er eines Mordes beschuldigt, den er nicht begangen hatte. Ein wütender Mob verprügelte Tumi krankenhausreif, weil er ihm die Schuld für den Mord an einem Mann aus seinen wutentbrannten Reihen in die Schuhe schieben wollte. Der Gefängnisaufenthalt konnte Tumi zum Glück nicht brechen: Politisch gereift und gut gewappnet gegen die Apartheid verließ er die Gefängnismauern, denn plötzlich wurde ihm klar, dass er ein klassisches Kind Sowetos war, und das bedeutete, dass er mächtige Verbündete gegen das weiße faschistische Regime hatte – den Dichter Mongane Wally Serote, den radikalen Politiker Robert Sobukowe und das überall in der Welt bekannte Ehepaar Nelson und Winnie Madikizela Mandela.
Wir müssen nicht alles verstehen, aber wir wissen mit Sicherheit eines: Tumi wurde während der Apartheid gefoltert. »The Captive Mind and The Captives« – unser Lieblingsgesprächsthema kehrt wieder zurück, und Rodrigo muss man nichts erklären, und mir auch nicht mehr.
Meine Ausreise nach Deutschland 1985 war schon ein echtes logistisches Kunststück, weil sie im Kalten Krieg stattgefunden hatte: Einen Reisepass und ein Visum zu bekommen, war damals nicht einfach; außerdem hatte ich als Teenager fast ein Jahr lang in Polen allein gelebt, da meine Eltern längst im damaligen Westdeutschland waren. Tropfenweise ließen die Kommunisten manche Bürger ausreisen, in der Hoffnung, dass sie die Nerven verlieren und in die Volksrepublik zurückkehren würden, um von ihnen Information über den Feind im Westen auszuquetschen. Und auch die Folter, die Rodrigos Vater in der Diktatur Pinochets erleben musste, sowie die Tatsache, dass sein Sohn als Anarchist und erbitterter Gegner des militärischen, rechtskonservativen Regimes, der Militärjunta, unter ständiger Beobachtung gestanden hatte, gehören zu den unglaublichen, schrecklichen Geschichten, die die Betroffenen nie mehr loslassen werden und die für die Alpträume die notwendigen Bausteine liefern.
Doch all das, was unsere Familien und wir als junge Menschen in Chile und Polen hatten durchstehen müssen, erblasst, wenn wir Tumis Geschichte hören. Er ist in Wahrheit ein echter Überlebender. Er spricht nur über die Zeit der rassistischen Unterdrückung durch das Apartheidregime nicht gerne, und wenn er bestimmte Ausdrücke aus dem Deutschen verwendet, klingt das nicht immer lustig; manchmal will er bloß seine Entrüstung und Ohnmacht zum Ausdruck bringen, dann sagt er auf Deutsch: »O Mann, o Mann! O mein Gott!«, was so viel heißen will wie: »Ich hab’s wirklich überlebt!« In Indras Stiftung arbeitet er schon seit vielen Jahren, deutsche Gäste sind bei Indra keine Seltenheit, Tumi konnte deshalb in der deutschen Sprache einiges »aufschnappen« und lernen – eben nicht nur wegen der phonetischen Nähe zu Afrikaans, der lebendigen Kolonialsprache Südafrikas.
Die Apartheid habe aber auch die Straßen in Soweto »rassistisch« geteilt, erklärt Tumi, verschiedene südafrikanische Volksstämme dürften ihre Nachbarn auf der gegenüberliegenden Straßenseite nicht besuchen, man habe sie untereinander zu Feinden erklärt. Er sei nun schon oft – in diesen düsteren Zeiten – aus Angst um sein Leben gerannt wie ein verjagter Straßenköter.
Ghetto im Ghetto – das ist mein Bild zu der Perfidie des weißen Apartheidfaschismus, und der Faschismus ist immer sehr erfinderisch, was das Foltern und Quälen seiner Gegner angeht: Er ist diesbezüglich genauso erfinderisch wie der sowjetische Kommunismus, wie auch vielleicht der chinesische, der moderne. Ich kenne auch das erste Ghetto der Welt – das Judenviertel in Venedig, das »Ghetto Novo«, wobei es in Europa unter den Historikern einen merkwürdigen Wettbewerb gibt, da manche von ihnen behaupten, das erste Ghetto sei gar nicht in Venedig entstanden, sondern in Genf. Aber das ist ein anderes Problem. Tumi sagt: »Sie haben mich einmal fast totgeprügelt. Die Jungs auf der anderen Straßenseite gehörten nicht zu unserem Volk.«
Das Wort »Volk« hat in Südafrika eine andere Bedeutung. Und plötzlich erscheint Rodrigo und mir der Begriff »Stamm« (engl. »tribe«) rassistisch. Wir fragen uns: Kann ein Volksstamm eine richtige Nation bilden? Tumi geht auf unsere Bedenken nicht ein, er sagt, seine Vorfahren hätten auf dem Gebiet des heutigen Kruger-Nationalparks gelebt, und das sei ein gänzlich anderes Leben gewesen – in der totalen Wildnis und Natur, aber in Freiheit, weil in der Heimat.
Ich sage, aber sie seien doch keine nackten Speerwerfer gewesen, die Abend für Abend ums Lagerfeuer herumgetanzt und den Buren ein Dorn im Auge gewesen seien, da das Burenvolk irgendwann beschlossen habe, die christliche Nächstenliebe neu zu interpretieren, indem es den Gottesdienst für Weiße und Schwarze getrennt habe: für »Blankes« und »Nie Blankes« (im Afr.). Und das sei eben der Anfang der »Segregation« gewesen. »Faking Segregejschon«, sage ich mit meinem polnisch-deutschen Akzent zum Schluss meiner Ausführungen.
Ja und nein, antwortet Tumi und lacht, seine Vorfahren hätten in Wohlstand und Frieden in ihrem Dorf gelebt, sie seien reiche Landbesitzer und Tierzüchter gewesen. Aber trotzdem sei ihr Leben von den Kolonialisten zerstört worden – man habe sie aus ihren Heimatgebieten verjagt, beziehungsweise verpflanzt; in einer fremden Umgebung, in der durch die Weißen urbanisierten Welt, sei es schwer gewesen, ein modernes, städtisches Leben zu führen, zumal man zum Beispiel kein Geld gehabt habe, um einen Stromanschluss zu bezahlen.
Rätsel über Rätsel, wir sagen okay, wir wollen es sehen – ihr neues Leben. Wir sind uns trotzdem nicht sicher, ob wir alles verstanden haben.
Tumi hat allerdings in einem Punkt sicherlich recht, wenn er behauptet, er habe eigentlich mehrere Muttersprachen gelernt, aber nur in einer fühle er sich wirklich zu Hause: in der Sprache seines Volkes.
Afrikaans, hervorgegangen aus dem Altniederländischen der Buren, der Kolonialisten, beherrscht Tumi perfekt – eben wie eine Muttersprache –, nur wir haben den Eindruck, dass er sich im Englischen viel wohler fühlt als im Afrikaans; er spricht Englisch zumindest ohne Ressentiments.
Er hat auch mehrere Heimaten – schießt uns beiden Pseudosafaritouristen nach dieser Zeitreise ins 18. und 19. Jahrhundert sowie in die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts durch den Kopf –, mehrere »Zuhäuser«: Soweto und Johannesburg, den Kruger-Nationalpark und die Dörfer und Städtchen der Provinz Mpumalanga, aus der sein Vater und womöglich alle anderen aus seiner Familie kommen, die heute aber in Soweto leben.
In das südafrikanische Englisch habe ich mich übrigens mit Leichtigkeit verliebt – mein Eindruck ist, dass die Südafrikaner die Wörter viel deutlicher und langsamer aussprechen und ich diese Sprache dadurch endlich schneller und besser verstehe, zumal mein Englisch bescheiden ist; bescheiden auch im Vergleich zu Rodrigos Englisch, der als ehemaliger Dozent der Uni aus Pittsburgh das für mich manchmal schroff und bieder klingende Amerikanisch spricht, obendrein mit einem chilenisch-spanischen Akzent, der jedoch für eine angenehme Sprachmelodie sorgt. Yeah! Carlos Santana lässt schön grüßen! Amerikanisch-spanischer Einfluss auf Rodrigos Englisch wird aber hier kaum beachtet. Und die Südafrikaner betrachten mich nicht als einen Osteuropäer: Ich bin weiß und komme aus Europa, das reicht ihnen. Dass ich kein Brite und kein Holländer und auch kein Deutscher bin und westliche Sprachen erst erlernen musste, spielt für sie keine große Rolle, ebenso für Tumi nicht.
»Tumi, wie heißt dein Volk?«, fragt Rodrigo. – »MaPulana – das ist unser Volk. Und unsere Sprache heißt SePulane.«
Unser Freund spricht noch sechs weitere südafrikanische Sprachen, und es interessiert uns, ob er das moderne Niederländisch verstehen könne. Tumi versucht, dieser Frage geschickt auszuweichen, er habe nichts gegen Holländer, sagt er, es sei zwar nicht das Land seiner Träume, doch mit Bestimmtheit würde er Niederländisch zum Beispiel in Amsterdam schnell korrekt sprechen lernen, aber Holland gebe es eigentlich gleich um die Ecke, zum Beispiel in Pretoria, lacht er.
Rodrigo und ich erinnern uns wieder an den Besuch in Pretoria, dem Regierungssitz Südafrikas, wo wir einen ganzen Tag damit verbracht haben, uns all die Denkmäler (zum Beispiel von Nelson Mandela oder Paul Kruger), die Regierungsgebäude und die Museen anzuschauen.
In seinem Roman Serotonin schreibt Michel Houellebecq, Holland sei kein Land, sondern ein Unternehmen – sein Ich-Erzähler behauptet das zumindest. Aber in Pretoria steht das Monument Voortrekkerdenkmal; das Monument ist zugleich ein Museum, das zu Ehren der Buren, der ersten Siedler aus Europa, vor allem aus Holland, gebaut wurde. Es erinnert zudem an die Schlacht am Blood River, die am 16. Dezember 1838, also zu Beginn des südafrikanischen Sommers, zwischen den Zulu und Buren unter dem Kommando von Andreas Pretorius stattgefunden hatte.
Ähnlich wie das Parteitagsgelände der Nazis in Nürnberg war dieses Monument in der Zeit der Apartheid eine Art Pilgerstätte, weil dort auch patriotisch-folkloristische Feste gefeiert wurden. Für Rodrigo und mich – kurz gesagt – ein grausiger Ort, für Salvador Allende wäre es bestimmt auch ein grausiger Ort, der trotz seiner früheren Funktion und Aufgabe heute von allen Südafrikanern regelmäßig besucht wird, zum Beispiel von solchen Schulkassen, in denen es keine weißen Schülerinnen und Schüler gibt. Der Geschichtsunterricht findet auch hier statt, denn das Museum erzählt den Mythos der Kolonialisierung aus der Sicht der Buren, obgleich die künstlerischen Darstellungen (meist Reliefs) der tapferen Zulu-Kämpfer zahlreich und genauso kitschig-pathetisch sind wie diejenigen der Buren. Es ist aber in Wahrheit ein faschistisches Denkmal, gebaut im Geiste der Ästhetik des Faschismus, das Rodrigo und mich bei der Besichtigung auch an den Turm von Babylon erinnert hatte und nicht so sehr an das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, das für die Architekten des Voortrekkerdenkmals als Vorlage gedient hat. Und bei genauer Betrachtung entdeckt man im Burenmonument geometrische Spiele und solche Zahlenwerte, die an die Freimauersymbolik anknüpfen.
Wir unterbrechen für eine Weile unsere Gespräche und hören Radio – man versteht sofort, woher die World Music kommt, warum Peter Gabriel und Paul Simon und John Coltrane in Afrika ihre Inspiration gesucht haben. In Europa und Südamerika gibt es solche Rhythmen nicht, die wir hier zu hören bekommen. Wir sind wieder begeistert.
Am späten Nachmittag verschwinden die Savannen und Weide- und Anbauflächen der Farmer – plötzlich verlassen wir die Autobahn und fahren auf den Landstraßen weiter, aber durch die Wildnis Südafrikas, durch kleine Dörfer, durch dichte Regenwälder, durch Hügel- und Berglandschaften, und wir fahren an gewaltigen Canyons vorbei, wo einst der Homo erectus – so stellen wir es uns vor – seine ersten Schritte gemacht haben musste, auf dem Weg zu uns Heutigen. Knochen für Knochen, Fossil für Fossil.
Mit solcher Aussicht aus dem Autofenster, solcher Diashow der Natur und mit unseren nicht enden wollenden Gesprächen lässt sich die lange Fahrzeit vergessen. Ich kann normalerweise lange Autofahrten nicht mehr so gut bewältigen wie in meinen Zwanzigern-Dreißigern, als ich Sommer für Sommer mit einem Pkw nach Ermland und Masuren gefahren bin, wofür ich manchmal am Steuer fünfzehn Stunden gebraucht habe und zwischendurch keine Schlafpause. Mir tut nicht der Rücken weh, das ist es nicht – ich langweile mich bloß, im Auto kann ich keine Bücher lesen, und ich ertrage das Eingeschlossensein in einer Büchse für zehn, zwölf Stunden nicht mehr, in einer Büchse obendrein, die die Umwelt verpestet (meine Träume von einem roten Alfa Romeo Spider aus den Sechzigerjahren habe ich längst ad acta gelegt). Und Indra kann mich in einem Punkt sehr gut verstehen, weil sie wie ich ein Bücherwurm ist. Als Schriftsteller, der pro Jahr im Durchschnitt dreißig Lesungen absolviert, bin ich ein Dauergast bei der Deutschen Bahn: Ich leide nicht unter Defätismus und Krittelei – nicht einmal als Emigrant leide ich darunter –, die häufigen Verspätungen der deutschen Züge stören mich nicht, ich lese dann einfach ein Buch weiter. Rodrigo gibt sich aber bedeckt, er ist ein zäher Chilene, der mit allen Reisebedingungen stets einverstanden ist – ihm bleibt auch nichts anderes übrig, letztendlich genauso wie mir. Rodrigo war noch nie in Europa, und ich sage ihm, nein, ich verspreche ihm hoch und heilig, dass ich ihn schon bald nach Europa einladen werde. Tumi lacht wieder. Solche Einladungen kennt er selbstverständlich zur Genüge. Und er kennt auch Europa und auch unsere verräterische, manichäische Empathie: So sind wir Europäer, in unserer Großzügigkeit verlieren wir oft die Bodenhaftung, das Gespür für das Machbare, Realistische.
Tumi wurde nicht nur im selben Jahr geboren wie ich, sondern auch am selben Tag und im selben Monat, am 7. Mai 1968, sodass ich oft leichten Herzens behaupte, ich hätte in Südafrika einen Zwillingsbruder, obwohl ich aus dem polnischen Ermland und Masuren komme und zwei »Zuhäuser« habe: das polnische und das bundesrepublikanische.
Tumi hat seine Jugend in Soweto verbracht, wo seine Mutter und seine Geschwister heute noch leben, aber die Kunst des Tanzes sollte seine Bestimmung werden, ohne Wenn und Aber. Wovon hier die Rede ist, zeigt eindrucksvoll Tumis kongeniale Tanzperformance mit den Autoreifen Tempered Souls von 2010: Es ist ein Aufschrei gegen den brutalen Praktiken der Kolonialisten auf den belgischen Kautschukplantagen Ende des 19. Jahrhunderts im Kongo, ein Aufschrei gegen die Folter der Arbeitssklaven, denen man zum Beispiel die Hände abhackte, wenn sie den gewünschten Ertrag nicht erbrachten; und es ist ein Protest gegen die grausame Praxis der Lynchjustiz – dem Opfer (dem zum Tode Verurteilten) setzte man den Reifen auf und zündete diesen dann an, sodass um seinen Kopf herum ein Feuerring brannte. Die Tanzperformance wurde übrigens auch in Soweto aufgeführt, und unsere gemeinsame Freundin Indra Wussow, die seit vielen Jahren schon für die Völkerverständigung mehr tut als mancher denkt, hat sie produziert.
Der Beruf des Tänzers entriss Tumi seiner Heimat und der Township, dem Soweto, bereits in seinen Zwanzigern. Gott sei Dank, denn Tumi konnte nach seiner Ausbildung zum Tänzer in die Welt hinausgeschickt werden, nach Ägypten, Ungarn, Russland, Österreich, Deutschland und so weiter. Und er ist – auf Indras künstlerisches Urteil kann man sich verlassen – ein verdammt guter Tänzer geworden, der vor allen Dingen eines versteht: den menschlichen Körper im Tanz ästhetisch und künstlerisch gegen die Unterdrückung der Menschen und ihrer Freiheit einzusetzen. Sein Tanz ist künstlerisch und politisch griffig. Und diese Griffigkeit verdankt er zum Teil der Erfahrung der Apartheid, letztendlich des weißen Faschismus und Rassismus.
Als ich Tumi vor zwei Wochen kennenlernte, wusste ich aber schon, dass er seine Karriere längst beendet hatte. Und bereits nach wenigen Tagen in Johannesburg erzählte er Rodrigo und mir, dass er am liebsten in Soweto eine Tanzschule eröffnen würde, was leider gar nicht so einfach sei, fügte er gleich hinzu.
Tumi weiß gar nicht, dass ich ihn oft beobachte, wenn wir gemeinsam unterwegs sind. Ich bilde mir ein, ich könnte aus seiner Gangart etwas Wesentliches, was nur ihm eigen ist, herauslesen und dies dann deuten, in reines Heroin verwandeln. Er hat einen sanften, leichten Gang, er bewegt sich unglaublich geschmeidig, was ihm wahrscheinlich gar nicht klar ist. Aber vielleicht täusche ich mich, denn hätte ich niemals erfahren, dass Tumi Tänzer ist, hätte ich seine Gangart vermutlich gar nicht studiert und ihr irgendwelche besonderen Eigenschaften zugeschrieben.
Eines ist mir dennoch schnell klar geworden: Tumi ist hier in seinem Südafrika zu Hause und gleichzeitig nicht, denn er ist als Tänzer so viel durch die Welt gereist, dass er oft von diesen Zeiten des Umherziehens und Auftretens auf verschiedenen Bühnen im Ausland schwärmt und Vergleiche zwischen den von ihm besuchten Ländern und seiner Heimat zieht, zum Beispiel zwischen Ägypten und Südafrika – einerseits. Andererseits wiederholt er oft, er fühle sich am wohlsten in Soweto, bei seinen »Leuten«, obwohl er sich bei Indra in dem Johannesburger Viertel Melville, wo sie beide wohnen und arbeiten, ebenso über dieses andere Zuhause freut, auf dessen Straßen die Jacarandabäume Jahr für Jahr für zwei kurze Frühlingswochen lila blühen.
Ich habe auch noch kein einziges Mal versucht, Tumi seine politische und räumliche Dialektik (Apartheid – Transformation nach 1994, Soweto – Arbeit in Europa) zu erklären; ich will nicht den Eindruck erwecken, dass ich besserwisserisch und rechthaberisch bin – dass ich seine Persönlichkeit »dekonstruieren« möchte, wie es Rodrigo zu sagen pflegt. Aber da ich ein sozialistisches Kind aus Osteuropa bin, verstehe ich sehr viel davon, was es bedeutet, in einem Regime zu leben, das den Raum begrenzt und die Bewegung einschränkt, und das meint ja nicht nur die Reisefreiheit, sondern auch den Geist, den man gefangen nehmen kann.
Und wenn man ein Niemand ist, weiß man, was es bedeutet, machtlos zu sein, den Hass, dem man total ausgeliefert ist, in sich zu tragen, den Hass auf die Machthaber.
Ich frage mich: Was nutzt dann Nietzsches Tanz gegen den Tod und für die Freiheit? Scheinbar sehr viel, wie man es an Tumis Biografie eines erfolgreichen Tänzers sieht. Eines Überlebenden.
In Acornhoek kommen wir am späten Abend an – so scheint es mir zumindest, da es bereits nach achtzehn Uhr in Südafrika stockfinster wird, vor allem auf dem Lande. Rodrigo und ich sind natürlich zwei polnisch-chilenische Urtiere, die noch nicht gänzlich bettreif sind, nicht einmal nach zwölf Stunden Autofahrt. Wir wollen bei Tumis Tante zum Abendessen Bier trinken, obwohl wir wissen, dass wir morgen bereits um sechs aufstehen müssen, um den geplanten Besuch im Kruger-Nationalpark zeitlich zu bewältigen. Aber ein kaltes Bier muss noch sein, deshalb halten wir in dieser wilden Finsternis Südafrikas an der belebten Hauptstraße, dem Broadway des Städtchens, an. Die beiden Straßenseiten sind voll mit geparkten Autos, aus denen laute Musik dröhnt, wie auf den Parkplätzen der deutsch-türkisch-russischen Plattenbauviertel in Bremen oder Verden, meiner bundesrepublikanischen Heimat. Händler bieten Lebensmittel, Getränke und Haushaltswaren feil (viele Erzeugnisse aus Plastik), und es gibt nirgendwo Weißhäute (»Blankes«) zu sehen, nirgendwo. Wir gehen in einen klassischen Liquor Store und werden sofort von Betrunkenen belagert, die auf uns auf Afrikaans oder Englisch pausenlos einreden, aber Tumi sagt: »Take it easy!« Hinter der Ladentheke sitzen drei übertrieben geschminkte, junge Frauen, die uns etwas ungläubig anschauen, als wären wir lebensmüde, müssten wir doch wissen, dass wir hier unerwünscht seien und vor allem für die lokalen Säufer eine leichte Beute. Sie bedienen die Kassen und die Kreditkartenleser hinter Glasfenstern und Gittern. Rodrigo ist cool und ich nicht – es ärgert mich, dass ich nicht cool geblieben bin und die aufdringlichen »Besoffskis« aus Acornhoek kurz angeschnauzt habe, ich der polnische Samurai aus Masuren. Tumi beruhigt uns, er sagt: »Bezahlt und dann gehen wir.«
Ich habe so eine Finsternis der Nacht noch nie gesehen, in keinem anderen Land, und ich mag sie, ich mag diesen schwarzen Nebel Südafrikas. Aber die betrunkenen Burschen aus dem Liquor Store erinnern mich zu sehr an die sozialistische Kindheit der Siebzigerjahre in meinem Geburtsort Bartoszyce, wo der Sowjetismus nach polnischer Auslegung und der Alkoholismus das Leben vieler Männer ruiniert haben. Und dann fahren wir nach dem Einkauf im Liquor Store zu Tumis Tante, wir haben für sie keine Geschenke, wir werden für die Übernachtung zahlen und auch für das Abendbrot, und Tumi sagt: »Denkt dran, ich hab’s euch gesagt: Das Haus meiner Tante ist sehr bescheiden, es sind wirklich nur Basics! Artur, wenn du willst, gehst du ins Hotel. Ich bring dich hin!«
Wir parken den Leihwagen aus Joburg im grauen, sandigen Vorhof eines nicht zu Ende gemauerten Bungalows. Tante Herlinas Haus ist eigentlich kein Haus, sondern eine Baustelle, die jemand vor vielen Jahren aufgegeben hatte. Die grauen Ziegelsteine des Bungalows sind mir nicht fremd, die Datschas der Schrebergärten im Sozialismus sahen nicht viel anders aus, ihre Mauern waren meistens auch nicht verputzt gewesen.
Tante Herlina begrüßt uns nicht, sie scheint eine schüchterne Person zu sein, sie spricht erst einmal nur mit ihrem Neffen, sie kann kein Englisch, und die beiden unterhalten sich auf Afrikaans. Aber die alte Frau freut sich auch über die Gäste aus dem Ausland – sie lächelt uns plötzlich an und schüttelt uns sogar die Hand, und das Afrikaans klingt in unseren Ohren lebendig und sanft. Ich verstehe nur Weniges: von wegen, meine deutsche Sprache wäre mir eine große Hilfe, doch Rodrigo findet sich in der neuen Umgebung schnell zurecht, und unsere Anspannung löst sich, als er sich an Tante Herlina wendet, was ihr Tumi im Nu übersetzt: »Wir sind sehr froh und dankbar, dass wir bei Ihnen unterkommen dürfen.« Der Philosoph aus Santiago de Chile überrascht wieder einmal mit seiner unprätentiösen Art; der verdammte Sozialist, denke ich, der daran glaubt, dass der Sozialismus, gepaart mit Marxismus, die einzige Lösung unserer globalen Probleme sein könne, ist ein angenehmer Reisegenosse. Seine Liaison mit dem Sozialismus nehme ich ihm nicht übel, denn er hat so wie ich die dunkle Seite des Mondes nicht gesehen: Die Erfahrung des Realsozialismus wurde ihm bisher erspart. Ich empfehle ihm nur von Zeit zu Zeit ein Buch, zum Beispiel Gustaw Herling-Grudzińskis Welt ohne Erbarmen von 1951, in dem der polnische Emigrant aus Neapel seine Gulag-Erfahrungen sowie den sowjetischen Kommunismus beschreibt.
Wir begrüßen Tumis Tante noch einmal mit einem Wangenkuss, aber sie ist eine bescheidene Frau, sie winkt lachend ab, was bedeutet, dass der Wangenkuss nicht nötig gewesen sei; sie redet unentwegt weiter in ihrer Muttersprache auf Tumi und uns ein, obwohl wir nichts verstehen. Ich kann auch nicht genau sagen, was sie trägt: ein Kleid, das eigentlich einem Kittel ähnelt; und ihre Hände verraten ihr hohes Alter, die Runzeln, die hellen Hautflecken und die von schwerer Arbeit wie auch vielleicht Krankheit verformten Finger, die wie Korkenzieher aussehen, als litte sie an Rheuma. Diese Frau ist bestimmt mindestens Anfang Achtzig und trägt Halbafrika auf ihren Schultern. Sie trägt die Geschichte der Gewalt, die den Schwarzen angetan wurde, in ihrem Herzen und im kollektiven Gedächtnis ihres Volksstammes – das sehen und spüren Rodrigo und ich sofort. Und während Tumi sich um die Stühle kümmert, damit wir draußen essen können, bringt seine Tante schon das Abendessen. Das Kostbarste, was sie uns servieren kann: Polenta – ja, so etwas wie Polenta – und Hähnchenkeulen. Der Maisbrei heißt hier Mielie Pap.
Ich schmecke den Sand zwischen den Zähnen bis heute noch, obwohl das Hähnchenfleisch, das wir mit den Fingern gegessen haben, köstlich geschmeckt hat – zubereitet nach Tante Herlinas Rezept. Und ich sehe immer noch die Avocadobaumblätter, die an dem Morgen, an dem wir zum Kruger-Nationalpark fahren wollten, vom leichten Wind knapp über dem Boden hin und her gerollt wurden. Und Tumis Tante sagte, während die Avocadobaumblätter aus ihrem bescheidenen Garten zu uns auf den Stühlen draußen Frühstückstee Schlürfenden geflogen kamen, dieses Jahr würden die Früchte des Avocadobaumes nicht so gut werden, die halbverwelkten Blätter hätten es ihr verraten.
Wir trinken nach dem Hähnchen ein letztes Bier und schlafen auf den Stühlen fast ein, was Tante Herlina amüsiert: »Wie wollt ihr denn morgen so früh aufstehen und zu den Löwen fahren? Ihr seid von der langen Fahrt kaputt! Ihr müsst erstmal ausschlafen!«
Und während wir für eine Weile schweigen, setzt sie ihren an uns und den Rest der Welt gerichteten Monolog fort, man dürfe den Löwen nicht in die Augen schauen, wenn man ihnen zufällig begegne – nur dann hätte man eine Chance, so eine unheimliche Begegnung zu überleben. Man dürfe auch nicht weglaufen, man müsse sich langsamen Schrittes entfernen, und sie wisse, wovon sie rede; in ihrem Dorf habe es des Öfteren hohen Besuch von der Savanne gegeben, sagt sie. Tumi hilft uns auf die Sprünge, da wir von ihrer Erzählung nicht alles verstehen, und er erklärt uns kurz Tante Herlinas Herkunft.
Ihr Dorf, das sich vor langer Zeit auf dem heutigen Gebiet des Kruger-Nationalparks befunden habe, existiere nicht mehr, seine Tante sei eine Vertriebene, Verjagte, ein Flüchtling, der von den »Blankes« aus seiner Heimat verjagt worden sei. Zur Schule sei sie nie gegangen, sie habe nur immer schwer schuften müssen, meist auf den Plantagen und für einen kargen Lohn.
Wir müssen uns schlafen legen, Tante Herlina hat recht, und nun kommen die Basics an die Reihe, von denen Tumi auf der Hinfahrt gesprochen hat. Er gibt uns für die Nacht einen Plastikeimer, damit wir unsere Notdurft verrichten können. Ich bin von der Lösung mit dem Plastikeimer nicht begeistert, und Rodrigo ermutigt mich, das Plumpsklo zu benutzen. Ich Idiot mache den Fehler, dass ich die Taschenlampe meines iPhones auf dem Plumpsklo einschalte. Das Licht scheucht unsere Mitbewohner auf, sie kriechen aus ihren Verstecken hervor: gut genährte Spinnen und Kakerlaken. Ich laufe zu Rodrigo zurück, Tumi hat sich inzwischen schlafen gelegt, den Schlaf hat er auch bitter nötig nach so vielen Stunden am Lenkrad, und wir nehmen einen letzten Schluck kalten Biers. Rodrigo sagt, er habe noch nie so ein entsetztes Gesicht gesehen wie bei mir nach meinem missglückten Versuch, das Plumpsklo zu erobern – meine Visage habe mehrmals die Farbe gewechselt. Ich antworte, wir seien nun Gäste der sogenannten Regenbogennation (Nelson Mandela), er brauche sich also nicht zu wundern, dass ich mich beim Schminken habe inspirieren lassen …
»Und, willst du immer noch ins Hotel gehen?«, grinst er. – »Nein! Tante Herlina würde sich wahrscheinlich beleidigt fühlen. Wir bleiben hier wie besprochen für drei Nächte und zahlen anständig für die Übernachtung. Auf die Weise wird die alte Dame diesen Monat nicht mehr auf der Bananenplantage schuften müssen.« Rodrigo schüttelt freudig den Kopf und zündet sich die letzte Zigarette an, ich auch, und wir können endlich gemeinsam über mich und meine zarten weißen Häute aus Europa lachen.
Wir zwei Johannesburger Nachteulen gehen früh ins Bett: gegen zweiundzwanzig Uhr. Der Kruger-Nationalpark und Tumis familiäre Angelegenheiten sind strenge Schutzengel unserer südafrikanisch-chilenisch-polnisch-deutschen Safaritour.
Ich habe in meinem Zimmer wie in einem Zelt auf dem Campingplatz oder dem Gelände eines Erholungszentrums geschlafen, ich bin nämlich immer wieder aufgewacht und habe einen Blick auf meine iPhone-Uhr geworfen, als müsste ich mitten in der Nacht aufstehen und zusammen mit meinem Vater zu unserem Motorboot im Jachthafen gehen, um anschließend zu unserer Lieblingsstelle auf dem See zu fahren und zu angeln: in der Nähe der sogenannten Vogelinsel. In meinen kurzen Träumen habe ich auf die Löwen aus dem Kruger-Nationalpark gewartet und darauf geachtet, ihnen bloß nicht in die Augen zu sehen. Bei Tumis Tante zu Hause fühle ich mich aber wie in meiner masurischen Heimat in der Zeit der Volksrepublik Polen. Ihr Haus ist eigentlich ein Doppelgänger eines Touristenbungalows aus dem ehemaligen sozialistischen Erholungszentrum Morena, das mein Vater an einem See geleitet hatte, allerdings vor fünfzig Jahren, während des Kalten Krieges also.
Tante Herlina besitzt kein Badezimmer. Das Wasser für den Tee und für die Plastikschüssel, über der man sich wäscht, wird in der Küche gekocht – in zwei Wasserkochern und auf einem Holzherd. Die elektrische Beleuchtung ist im ganzen Haus mickrig, in allen Räumen herrscht ein Dauerdämmerzustand, sämtliche Fenstervorhänge sind zugezogen, die Sonne hat keine Chance, Tante Herlinas Königreich zu erobern, und in den vier Zimmern, von denen drei über ein Bett verfügen (Tumi schläft auf einer Matratze auf dem Boden), ist die Zeit in den Siebzigern und Achtzigern stehengeblieben. Solche Furniermöbel standen auch einmal bei uns in Polen … 1978 vielleicht? Das dünne, auf Holzbalken befestigte Wellenblechdach schützt das Haus vor dem Regen, aber nicht vor Insekten, die in diesen Mauern überall ein Loch oder einen Schlupfwinkel finden, und nicht vor Krach. Wenn es hier regnet, muss im Haus ein höllischer Lärm herrschen – ich höre ein Heavy-Metall-Konzert und nicht das Prasseln der Regentropfen auf das Blech, sobald ich meinen Blick auf die Wellenblechdecke richte.
Tumis Tante, und das gefällt mir, scheint aber eine Leidenschaft zu pflegen, da ich den Eindruck nicht loswerden kann, in einer Schusterwerkstatt oder einem Schuhladen übernachtet zu haben: In meinem Zimmer entdecke ich zumindest eine gewaltige Schuhsammlung, und alle Paare sind schon etwas betagt und würden für einen guten Auftritt in einem Nouvelle-Vague-Film sorgen. Ich entdecke noch eine elektrische Nähmaschine, die auf einem Schminktisch steht, und riesige Unterbettkommoden aus durchsichtigem Kunststoff – sie sind jedenfalls mit Kleidern, Bettdecken und Kissen bis zum Bersten vollgestopft. Sie stapeln sich auf dem Kleiderschrank bis unter die Wellenblechdecke, sie scheinen dort schon seit Jahren zu »versauern«, Tante Herlina bekommt bestimmt selten auswärtigen Besuch; meine wichtigste Entdeckung ist allerdings religiösen Charakters, es geht um eine klassische Devotionalie: An der Wand hängt eine gedruckte Reproduktion eines in Öl gemalten Bildes Jesu Christi, sein Herz steckt in einer Dornenkrone und sein Gesicht wirkt traurig, doch der Sohn Gottes und Mariä erträgt tapfer sein Leid. Sein die Erlösung und Vergebung bringendes Herz brennt heilig, und die rechte Hand segnet den Betrachter: Der Daumen und die ihm zwei folgenden Finger stehen für die Dreifaltigkeit, weil sie kerzengrade ausgestreckt sind. Ein geradezu typisch römisch-katholisches Bild, farbenprächtig und fast schon ikonenhaft, da man es sowohl in Polen wie auch in Italien oder Spanien in den Schlafzimmern älterer Damen vorfindet (ich besitze auch so eines, ein Erbstück von meiner Großmutter Natalia). Tante Herlina ist evangelisch wie Tumi, sie trägt auch eine Kette mit einem baumelnden Kreuz. Aber hier in Acornhoek fragt wohl niemand danach, in welchem Stil ein Christus-Bildnis gemalt worden sein könnte. Es ist außerdem bloß eine Reproduktion. So viel Verständnis für den hiesigen Eklektizismus und Synkretismus muss Luther in Südafrika schon aufbringen: für die römisch-katholischen Christus-Darstellungen aus dem Zyklus Sacred Heart of Jesus, Sagrado Corazón de Jesús, Najświętrze Serce Jezusa und so weiter.
Um halb sieben wasche ich mich und Tumi bringt unsere Plastikeimer zum Plumpsklo, um sie zu leeren. Seine Tante spricht mit uns an diesem frühen Morgen auf Afrikaans einfach weiter, als hätte es die Nachtruhe nicht gegeben, und ich antworte ihr stets auf Deutsch, in der Hoffnung, sie könnte vielleicht irgendein Wort aufschnappen und verstehen. Ich bin ein Clown, was Tante Herlina nicht stört, ganz im Gegenteil, sie amüsiert sich über meine Morgentoilette, denn ich singe ein obszönes, polnisches Liebeslied und zeige ihr meine Muskeln, die leider nicht mehr die ansehnlichsten sind.
Dann trinken wir Tee, der uns sehr gut schmeckt und der ziemlich stark ist, es gibt auch wieder Polenta zu essen und außerdem Honig. Das Frühstück verspeisen wir in der Küche, und ich frage mich nun, was Tumis Tante an diesem herrlichen Tag voller Sonne machen wird? Sie bleibt den ganzen Tag alleine in ihrem dämmrigen Haus, die Nachrichten und Unterhaltungssendungen im Fernseher und Radio scheinen sie nicht mehr zu interessieren, und Tumi sagt, dass seine Tante auch ihre Nachbarn meidet, da sie das alltägliche und für sie sinnlose Tratschen und Lästern nicht mehr ertragen könne. Sie winkt nur mit der Hand ab, was bedeutet, dass sie auf so eine fragwürdige Unterhaltung gerne verzichten wolle.
Und die Frauenzeitschriften, die in meinem Zimmer auf dem Schminktisch liegen, berichten über längst verstorbene Stars und Sternchen und über ihren Reichtum. Tante Herlinas Rente beträgt 1.200 Rand, etwa 80 Euro. Das ist herzlich wenig, und der Nebenverdienst auf der Bananenplantage wird bestimmt auch nicht gerade üppig sein, er hilft ihr aber zu überleben. Jedenfalls sagt mein chilenischer Freund, das sei die beste Pension in Acornhoek, die uns Tumi habe besorgen können, womit er recht hat.
Rodrigo und ich sind nicht nur neugierige Pseudosafaritouristen, sondern auch zwei Pseudoethnologen und -soziologen, die sich unterwegs ständig Notizen machen und die in Südafrika am liebsten solche kulturgeschichtlich-soziologischen Studien betreiben würden wie der Vorzeigestrukturalist Claude Lévi-Strauss einst, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Mato Grosso einige Forschungsreisen zu den indigenen Völkern unternommen hatte. Rodrigo und mich verbindet vor allem eines: die Lektüre solcher Bücher, die wir beide in unserem Leben gelesen haben, und das ist unsere eigentliche Metasprache. Wir kennen nämlich den berühmten Klassiker von Lévi-Strauss, den Essayband Traurige Tropen von 1955, in dem er die Ergebnisse seiner Studienreisen ins Amazonasgebiet vorstellt. Wir versuchen, zumindest so zu tun, als könnten wir uns mit dem Meister messen, da unsere Feldstudien selbstverständlich viel bescheidener ausfallen, um nicht zu sagen dilettantisch.
Nichtsdestotrotz wollen wir von Tumi endlich erfahren, wie alt Tante Herlina eigentlich ist, zumal sie doch in einer vollkommen in Vergessenheit geratenen Zeit aufgewachsen sein muss, als auf dem Gebiet des heutigen Kruger-Nationalparks noch verschiedene Volksstämme in ihren Dörfern einigermaßen friedlich gelebt haben sollen, und unsere Betonung liegt auf einigermaßen, hatte es doch in all den Jahrhunderten Ärger und blutige Stammeskriege gegeben, unter anderem gegen die Zulu.
Doch Tumi verblüfft uns mit seiner Antwort, die wir ohne Wenn und Aber akzeptieren und vor allen Dingen respektieren müssen. Er sagt, er wisse nicht, wie alt seine Tante sei – er habe nie darüber nachgedacht, zumal es unhöflich und eigentlich nicht erlaubt sei, ältere Menschen in der Familie und Verwandtschaft nach ihrem Alter zu fragen, ja, manchmal wisse man nicht einmal den Namen des Onkels oder der Tante, zumal es auch unhöflich sei, sie bei ihren Namen anzusprechen.
Seine Antwort gefällt uns, und wir werden den bereits 1926 gegründeten Kruger- Park nicht wie einen weltberühmten Nationalschatz Südafrikas besichtigen, sondern wie ein ehemaliges Zuhause von Tante Herlina und dem »namenlosen« Onkel, von dem unser Freund den Brief des Königs abholen muss. Und es beruhigt uns ein bisschen, dass wir schon das Dissidentengefängnis, das sich gleich neben dem Johannesburger Verfassungsgericht befindet und in dem auch Nelson Mandela gesessen hat, gesehen haben: Wir können nämlich nach zwei Wochen intensiver Recherchen und Besichtigungen sowie großartiger Feiern zu Hause bei Indra, die uns mit ihren Freunden, meist Künstlern, Autoren, Diplomaten oder anderen bunten Vögeln jeglicher intellektueller Couleur, bekannt gemacht hat, behaupten, erfahrene Pseudosafaritouristen zu sein. Den Kruger-Nationalpark werden wir deshalb genauso respektvoll und ernsthaft unter die Lupe nehmen wie bisher alles andere in diesem Land.
In Acornhoek leben fast 35.000 Menschen – in Johannesburg knapp 1. Million, in Soweto etwa 1,3 Millionen. 98 % der Bewohner dieses vor den Toren des größten Nationalparks Südafrikas liegenden Städtchens sind schwarz: 0,1 % weiß und ebenso 0,1 % »coloured« – den Begriff »Coloureds« (Afr. »Kleurlinge«) mögen Rodrigo und ich nicht, er erinnert uns an die »Segregation« in der Apartheid. Aber nicht alle Südafrikaner leben in Acornhoek wie Tumis Tante ohne Badezimmer und Toilette, obgleich die alte Frau wenigstens über einen Wasser- und Stromanschluss verfügt; die Avocadobäume und zehn Hühner auf dem umzäunten Hof, der eine karge Gartenlandschaft dem Betrachter bietet, sind ihr ganzer Reichtum, und die Erde ist hier trocken, staubig und grau – man muss sie wässern, wenn man ihr Früchte entreißen möchte. Denn in Acornhoek wohnt auch die neue schwarze Mittelklasse, die kleine moderne Einfamilienhäuser baut, in den Schulen, Krankenhäusern, Behörden und Kleinbetrieben beschäftigt ist oder den Weg der Selbständigkeit erfolgreich beschreitet.
Aber als wir auf dem Weg zum Kruger-Nationalpark Tumi fragen, wem all die anderen gigantischen, umzäunten, abgeschirmten und von Rangern bewachten Landflächen gehören würden, machen wir unbewusst ein Fass ohne Boden auf. Tumis Antwort gleicht einem publizistischen Vortrag, er spricht von der Regierungspartei ANC, dem Afrikanischen Nationalkongress, der Nelson-Mandela-Partei, die zwar an der Macht sei, aber längst nicht mehr als unumstritten gelte.
Wir bekommen eine ernüchternde Diagnose zu hören. Moderne Plagen, jedoch biblischen Ausmaßes haben Südafrika fest im Griff: extrem hohe Staatsverschuldung, Korruption, Nepotismus, Tribalismus, Arbeitslosigkeit (jeder dritte Bürger ist ohne Arbeit), ungerechte Einkommensverteilung, mehr als 50 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, extrem hohe Kriminalität unter den Jugendlichen, Tag für Tag sterben in Südafrika Kinder an Hunger, 20 % der Haushalte sind von extremer Armut betroffen (nicht nur in den Townships) und so weiter.
Tumi spricht auch von Träumen seiner schwarzen Landsleute, die Landbesitzer und Farmer würden werden wollen.
Wir begreifen mehr und mehr von den Konflikten, die Südafrikas Gegenwart bestimmen und auch seine Zukunft prägen werden. Jedenfalls ist Mandelas ANC keine Heilige Kuh mehr, was der Kongress vor allem dem korrupten Expräsidenten Jacob Zuma zu verdanken hat. Und nach wie vor ist die weiße Bevölkerung viel reicher als die schwarze, obwohl sie im Prinzip eine Minderheit bildet: Bei fast 58 Millionen Einwohnern sind lediglich etwa 5 Millionen Südafrikaner weiß, das sind 8 % der Gesamtbevölkerung. Die weißen Farmer haben panische Angst vor entschädigungslosen Enteignungen, sie fürchten ein zweites Simbabwe, wo man beim Nachbarn durch Enteignungen die Landwirtschaft kaputt gemacht hat. Wir fragen uns: Also, sind Schwarze schlechtere Landwirte und Weinbauern? Die Kritiker der Enteignungen – unter anderem die Oppositionspartei DA (Demokratische Allianz) – sagen, es bringe nichts, den schwarzen Bürgern Südafrikas ihr ursprüngliches Heimatland, das von weißen Farmern landwirtschaftlich im großen Stil genutzt werde, zurückzugeben … Man müsse auch etwas von industrieller Landwirtschaft wie auch dem internationalen Lebensmittelhandel verstehen.
Und ich dachte immer, Deutschland sei das ultimative Land der Zäune und Mauern, der Abschottung und des inneren Exils, Privatbesitz sei bei uns besonders heilig, aber ich irrte all die Jahre, auch nach dem Mauerfall: Südafrika ist nicht nur ökonomisch und gesellschaftlich ein geteiltes Land, es ist auch ein Land der Zäune und Mauern auf Schritt und Tritt. Und hinter manchen mannshohen Zäunen entdecken wir bewaffnete Männer, eine Art Privatarmee.
Der Morgen sollte jedoch nicht trübselig und weinerlich beginnen, wir werden im Kruger-Nationalpark ein zweites Frühstück – ein üppiges – zu uns nehmen, und zwar im Stara Rest Camp, wenige Kilometer von der Grenze zu Mosambik entfernt. Und am späten Nachmittag wollte Tumi mit uns zusammen zu seinem Onkel und seiner Familie fahren, der in dem Dörfchen Green Valley in der Nähe von Bushbuckridge, einer weiteren Kleinstadt, wohnt. Der namenlose Onkel möge wie Tante Herlina keine Geschenke von Fremden, sagt Tumi, und ich antworte etwas verärgert, das gehöre sich doch so, dass man als Gast aus dem Ausland wenigstens ein Sixpack mitbringt oder dem Onkel vielleicht einhundert Rand in die Hand drückt, aber Tumi verteidigt sich (und auch seinen namenlosen Onkel), der alte Mann sei Alkoholiker und würde sich sofort Bier kaufen, was Tante Herlina mit Bestimmtheit nicht gutheißen würde.
Wie viele aus dem Kruger-Nationalpark in die weiße Zivilisation verpflanzte Männer mögen wohl Säufer geworden sein?, frage ich mich und will diese Frage nicht laut aussprechen. Schließlich sollen wir uns die Zeit in dem südafrikanischen Nationalpark wie in einem Zoo vertreiben, wir tun auch so, als hätten wir für einen Tag Ferien – wir werden allerdings nicht wie all die miserablen Klone des Jägers und Meisters Hemingway in militärisch anmutenden Geländewagen der Park-Ranger sitzen und permanent Fotos von Antilopen, Buschböcken, Elefanten und Giraffen schießen – wir werden den gigantischen Nationalpark mit unserem Johannesburger Leihwagen durchqueren, und Tumi hat uns versprochen, uns heilige Stätten der Natur zu zeigen; Orte, die so anmutig und sakral seien wie zum Beispiel Devils Tower in Wyoming. Megalithbauten, die wir aus Europa oder Südamerika kennten, gebe es im Kruger-Nationalpark allerdings nicht, sagt unser Freund.
Wir passieren die erste Kontrolle, eines der zahlreichen Haupttore, und unser Leihwagen wird sofort nach Waffen durchsucht, dann müssen wir zur nächsten Ticketstation fahren, die wir, obwohl wir uns im Schneckentempo bewegen, da bereits überall Geländewagen mit Parkbesuchern halten, um in der Ferne vorbeiziehende Elefanten oder Gazellen zu beobachten, nach einer knappen halben Stunde erreichen. In der Ticketstation müssen wir als erstes unsere Reisepässe vorzeigen, uniformierte Parkwächter machen Kopien von unseren Reisedokumenten und kassieren eintausendeinhundert Rand und ein paar Zerquetschte: So viel kostet der Hemingway-Spaß – für drei Personen versteht sich. Rodrigo und ich sind jetzt auf den Festplatten der Computer des Nationalparks gespeichert und keine Unbekannten mehr.
Ich nutze die Pause und gehe auf die öffentliche Toilette, und was mir bei Tante Herlina nicht möglich erschien, gelingt hier sofort, und während Tumi und Rodrigo den ersten Kaffee bestellen, muss ich plötzlich an Claude Lévi-Strauss und seinen Essayband Wir sind alle Kannibalen denken. In dem Essay Die weibliche Sexualität und der Ursprung der Gesellschaft von 1995 schreibt er über »unseren direkten Vorgänger« Homo erectus, dass er schon vor einer halben Million Jahre »raffiniertes Steinwerkzeug hergestellt« habe. Der Weg zu einem Plumpsklo beziehungsweise einer Klospülung kommt uns heute unendlich lang vor, doch er hat hier in Südafrika begonnen.
Nach dem Kaffee folgen – wie ich es erwartet habe – unzählige Stunden im Auto, die durch lange Pausen auf den Aussichtsplattformen unterbrochen werden.
Ein ausgetrocknetes Flussbett, in dem Paviane herumtoben, das aber auch müde Elefanten oder quicklebendige Buschböcke überqueren, frisst sich in unser Gedächtnis ein und wird über viele Jahre eine kostbare Erinnerung bleiben: Dieses unscheinbare Bild des verschwundenen Flusses kann bereits heute auf uns Menschen und unser Parasitengebaren auf der Erde – wie es Michel Serres, der andere Franzose, ausdrücken würde – übertragen werden.
Tumi kennt sich im Kruger-Nationalpark ausgezeichnet aus, wir überholen die mit Touristen vollbesetzten Geländewagen der Park-Ranger, und in der Tat, eines darf man hier nicht tun: Elefantenmüttern zu nah kommen, will man seine heiligen Häute noch behalten.
Wir fahren nach dem üppigen, englischen und im Prinzip einem Lunch nahekommenden Frühstück im Satara Rest Camp in Richtung Mosambik weiter. Wir sind froh, dass wir den Ort verlassen haben: Das Camp, das mitten in der Wildnis liegt und sogar über eine Tankstelle verfügt, ist mit all den Gästezimmern, Bungalows, Campingplätzen, Restaurants und Pools eine Bastion des internationalen Safaritourismus, in dessen Gesellschaft man sich nicht allzu wohl fühlt, wenn man bestimmten Ritualen, Gesprächsthemen und Verhaltensweisen sowie bestimmter Kleiderordnung wenig abgewinnen kann.
Unterwegs auf den rostfarbenen sandigen Pkw-Wegen, die durch Buschhaine oder lichte trockene Laubwälder führen, entdecken wir auch riesige Termitenhügel, die von Weitem so aussehen, als handelte es sich bei diesen kunstvollen Pyramidenkopien der Natur um eine vor grauer Zeit von Menschen verlassene Ortschaft. In Wahrheit geben wir die Hoffnung nicht auf, dass wir vielleicht doch noch auf irgendwelche Ruinen oder wenigstens von Menschenhand bearbeitete Steine und Feuerlagerplätze des Dorfes von Tante Herlina und dem namenlosen Onkel stoßen werden, ganz zufällig.
Wir können Spuren menschlicher Zivilisation leider nirgendwo entdecken, stattdessen treffen wir hin und wieder auf Fels-, Berg- und Hügelformationen, die auf den ersten Blick rätselhaft, wie nicht von dieser Welt aussehen, als stammten sie aus der dunklen Epoche vor der Sündflut. Die Natur hat sie im Laufe der längst vergessenen Zeitalter geschaffen und für die Hominiden zu heiligen Stätten gemacht, die vortäuschen, künstlichen Ursprungs zu sein. Tumi hat uns nicht zu viel versprochen.
Gegen Abend – wobei Rodrigo und ich den Eindruck haben, dass wir die ganze Zeit im Kreis gefahren seien, was natürlich nicht stimmt –, gegen Abend, der bei uns in Europa ein später Nachmittag wäre, kehren wir dem Kruger-Nationalpark den Rücken und passieren den Kontrollwachposten eines der vielen Exit-Tore. Unser Leihwagen wird wieder durchsucht, aber diesmal nicht mehr nach Waffen, sondern nach Trophäen und erlegtem Wild. Es ist an und für sich kaum zu glauben, dass es einer relativ kleinen Armee von Parkwächtern gelingt, ein Gebiet von 19.485 km², das zwar gänzlich umzäunt, doch immerhin so groß ist wie Hessen, erfolgreich zu bewachen; trotzdem büxen Löwenrudel hin und wieder aus, schaffen es die Wilderer, unbemerkt in den Nationalpark zu gelangen und den Nashörnern oder Elefanten ihre kostbaren Waffen zu stehlen, die Hörner und das Elfenbein. Aber das sollte uns erst einmal nicht mehr betrüben. Wir haben jetzt eine andere Aufgabe zu erledigen.
Wir fahren zu dem namenlosen Onkel unseres Freundes. In einundeinhalb Stunden wird es bereits wieder gänzlich dunkel werden, Südafrika wird in der Nacht unsichtbar, wir müssen uns ein wenig beeilen. Und kaum, dass wir das an den Kruger-Nationalpark angrenzende Land verlassen haben, schießen schon Neubauten aus dem Boden; neue Einfamilienhäuser und Straßen werden hier unermüdlich gebaut wie während eines Wirtschaftsbooms, und in Acornhoek entsteht eine Einkaufsgalerie, einer von diesen Konsumtempeln der Globalisierung, wie man sie in Holland, Polen oder Chile und in vielen anderen Ländern vorfindet; sie wirken alle irgendwie geschlechtslos, weil sie überall gleich aussehen: durch die weltweit bekannten Produktmarken und Restaurantketten, aber auch durch die farblosen Konsumenten, die auf der ganzen Welt beliebig austauschbar sind.
Auf dem Weg nach Green Valley bei Bushbuckridge halten wir kurz vor einem Supermarkt und besorgen für den Abend bei Tante Herlina kalte Getränke: Wasser und Bier und für Tumi Cola. Nach wie vor wünscht sich unser Freund, dass wir seinem Onkel keine Geschenke mitbringen, vor allem keinen Alkohol: nicht einmal Geld sollen wir ihm einstecken, zweihundert Rand oder etwas weniger. Was in Johannesburg und vor allem in Soweto eine gängige Praxis ist, dass man jemandem Trinkgeld oder ein bestimmtes Sümmchen einfach schenkt – nicht nur Straßenbettlern –, funktioniert in der Verwandtschaft von Tumi nicht (mit Ausnahme von Tante Herlina, der wir gerne für ihre Gastfreundschaft, für Speis und Trank sowie Obdach, zahlen werden).
Vor den Supermärkten begegnet man oft selbsternannten Parkplatzwächtern, die auch beim Tragen und Verstauen der Einkäufe im Kofferraum des Pkw helfen; aber es gibt auch solche Freunde von Tumi, die uns das ärmste Viertel in Soweto, ihr Zuhause, gezeigt haben: den Bezirk Kliptown. Dort gilt es als selbstverständlich, dass man ihnen, den privaten Toursitenführern, Trinkgeld zahlt: und nicht nur ihnen, auch einem begabten Schüler, der den fremden Besuchern seine Schulhefte oder Zeichnungen präsentiert, stolz zwar, jedoch in Erwartung eines kleinen Honorars, was man verstehen kann, eben nicht nur im Kontext der Armut und der hygienischen Bedingungen, die dort in dem ärmsten Viertel Sowetos katastrophal sind – am Township-Saum.
Doch ein Ausflug in die westlichen Randgebiete Sowetos hatte für Rodrigo und mich einen besonderen, eben nicht nur kulturgeschichtlichen Stellenwert: Schon wenige Tage nach unserer Ankunft in Johannesburg brachte uns Tumi zu seinem Freund, dem Turmwächter, der sich in Sekundenschnelle als exzellenter Storyteller entpuppte.
Sein Turm, den er in einer Parkanlage bewacht, ist gemauert und könnte auch gut in einem mittelalterlichen Schloss stehen. Erbaut wurde er zu Ehren von Sir Ernest Oppenheimer, soweit ich mich entsinne, den man durchaus als den Wohltäter Sowetos bezeichnen kann. Oppenheimer, ein deutscher Diamantenhändler und Begründer des Diamantenkartells, ließ in den Fünfzigerjahren im damals langsam entstehenden Soweto mit Hilfe von Krediten nicht nur für die Minenarbeiter gemauerte Einfamilienhäuser bauen, nachdem er während seines Besuchs 1950 in der Township Orlando voller Entsetzen festgestellt hatte, in welchem Elend und Dreck Menschen dort leben mussten.
Auf der Aussichtsplattform des Oppenheimer-Turms geriet aber unser Storyteller in Wallung und beschleunigte seine Erzählung, sodass wir ihm kaum richtig folgen konnten. Unsere Fantasie ließ uns zum Glück nicht im Stich. Wir begriffen allmählich, was uns der talentierte Mann eigentlich sagen und zeigen wollte. Wir sahen in der Ferne nicht nur die ersten Einfamilienhäuser Sowetos – der Storyteller bat uns, unser Augenmerk auf die ehemaligen Überwachungsscheinwerfer der Apartheid zu richten, die auf spindeldürren Masten hoch über dem Oppenheimer-Viertel thronen: »Schaut, sie haben uns selbst beim Schlafen gefürchtet, weil wir angeblich so gefährlich waren«, lachte der Turmwächter.
Doch das war nicht alles, was er uns zu bieten hatte: Wir gingen nach der Geschichtslektion zu Fuß zu einem nahe gelegenen Freilichtmuseum, wo es ein von Künstlern nachgebautes Dorf aus dem 19. Jahrhundert zu bewundern gibt, und der junge Mann verwandelte sich plötzlich in einen Anthropologen und erzählte uns nicht nur von der archaischen Dorfgemeinschaft, sondern auch vom Leben der Ahnen im Jenseits und von den bösen Dämonen, die die Gräber der Verstorbenen wieder öffnen würden, um ihre ewige Ruhe zu stören.
Das historische Dorf, bestehend aus ein paar gemauerten, kreisförmigen und mit Schilfdach bedeckten Musterhütten, grenzt allerdings an einen kuriosen Skulpturen- und Gebäudepark, wobei die fantastische Mischwesen darstellenden Plastiken in ihrem Kitsch unerträglich sind. Sie lassen uns an billig gemachte Horrorfilme denken, an B-Movies, an Dr. Frankenstein und an Riesenechsen, die Menschen fressen.
Und in einem Häuschen dieser verrückten Parkanlage hängt ein Gemälde des Zulu und Sangomas Credo Mutwa, des umstrittenen Wahrsagers und Heilers, der mittlerweile fast hundert Jahre alt ist. Sein farbenprächtiges Ölgemälde versetzte Rodrigo und mich in Erstaunen: Gemalt 1979 stellt es prophetisch dar, wie es in einer futuristischen, glücklichen Metropole zu einer furchtbaren Tragödie kommt – ein Flugzeug steuert einen Wolkenkratzer an und will ihn zerstören; ein ans Meeresufer gespülter Totenkopf, dem ein schwarzer Ring aufgesetzt wurde, und ein verängstigter exotischer Vogel auf einem trockenen Ast lassen für die Megacity nichts Gutes erahnen.
Unser Storyteller sagte, es sei jedem überlassen, ob er Mutwas prophetischen Visionen Glauben schenken wolle oder nicht. Ich hatte Anfang der Neunziger ein Interview mit dem Zulu gelesen, als im Westen die New-Age-Bewegung ihren Höhepunkt erlebte. Der Sangoma behauptete darin, dass Außerirdische (Dämonen) Menschen entführen und ihr Fleisch essen würden, am liebsten das der kleinen Kinder aus Afrika, weil deren plötzliches Verschwinden nicht so leicht auffallen würde wie in Europa.
Aber unser sympathischer Turmwächter sollte keinen schlechten Eindruck von mir gewinnen, deshalb kommentierte ich seine Ausführungen nicht. Außerdem musste ich mich als Brückenbauer zwischen Polen und Deutschland und selbsternannter Kulturattaché der Volksrepublik Polen an den diplomatischen Kodex halten. Rodrigo behielt wie immer die Nerven, ihn kann weder ein Sangoma noch ein Turmwächter aus der Fassung bringen, oder, wie er manchmal sagt, und zwar im Sinne unserer französischen Strukturalisten, niemand könne seine Persönlichkeit »dekonstruieren«.
Kurz nach siebzehn Uhr kommen wir bei Tumis Onkel in Green Valley an – auf löchrigen Sandwegen gelangt man mühevoll zu dem auf einem Hügel liegenden Hof seiner Verwandtschaft, bei der er wohnt –, und wir können sogar, bevor es wieder schnell dunkel wird, noch eine Weile draußen sitzen und uns mit Tumis Onkel unterhalten und dabei in das grüne Tal blicken, in dem es unzählige Einfamilienhäuser, chaotisch verstreut wie Leuchtkäfer auf einer Waldwiese, zu sehen gibt – es ist, als säße man vor einem aufgebrochenen Ameisenhaufen.
Wir sind ein wenig verunsichert, als wir aus dem Auto steigen und den Hof betreten. Acht oder gar zehn schweigende Menschen jedweden Alters – Tumis Tanten und ihre Kinder und Ehemänner – erwarten uns auf einer überdachten Terrasse eines gemauerten, verputzten, ebenen Hauses.
Aber direkt vor dem Haus sitzt auf einem Stuhl ein Greis, dessen Augen Rodrigo und mich nicht anschauen – zwei milchig-graue Pupillen, rötlich umrandet, leuchten lebendiger als all die Augen, die Rodrigo und ich jemals zu sehen bekommen haben. Der alte Mann, dessen linker bandagierter Arm in einer Schlinge steckt und an der Brust ruht, sitzt barfuß da, seine Füße sind vom feinen Sand, der den ganzen Hof bedeckt wie Schnee – auch den Garten mit den Avocadobäumen –, aschgrau gefärbt.
In einem Fenster lächelt uns ein Mann an, der auch nicht mehr der Jüngste ist, aber wir erkennen sofort, was uns sein freundliches Lächeln nicht verrät, sondern seine Physionomie, dass er geistig behindert sein muss. Wir sagen ihm »Hallo!«. Wir sind immer noch etwas zurückhaltend, als wir den Frauen und den Kindern die Hand reichen, da sofort auf Afrikaans gesprochen wird und wir nichts verstehen. Wir antworten auf Englisch, eine andere Lösung gibt es nicht.
Für Tumi ist es täglich Brot – für uns absolutes Neuland, was das Ritual der Begrüßung seines namenlosen Onkels angeht. Tumi verbeugt sich vor dem Greis, er gibt ihm zwei-, dreimal die Hand, die Daumen gehen dabei hoch und runter, und unmittelbar darauf übereicht ihm sein Onkel eine kleine metallene Dose mit schwarzem Schnupftabak, und all das geschieht fast wortlos, und unser Freund entfernt sich mit der Tabakdose wenige Schritte von uns in Richtung des Gartens und kniet auf einmal nieder wie zum Gebet. Er nimmt eine Prise Tabak und streut ihn wie Salz über die Erde, die er anschließend küsst. Erst nach diesem Erdenkuss scheint die Zeremonie der Begrüßung abgeschlossen worden zu sein, und Tumi und uns werden von einer jungen Frau, die ein schwarzes, vom Sandstaub beflecktes Abendkleid mit einem weißen Spitzenkragen trägt, Stühle gebracht – doch bevor wir uns zu dem namenlosen Onkel setzen, geben wir ihm auch mehrmals die Hand und versuchen, die Daumenbewegung nachzuahmen, was uns mehr oder weniger geschmeidig gelingt.
Dann wird wieder die Sprache gewechselt, das Afrikaans verstummt, und wir hören endlich den Sound des SePulane, der uns in längst vergessene Epochen dieses Kontinents entführt, und uns kommt es so vor, als würden wir das einst im Kruger-Nationalpark gelegene Dorf, aus dem Tumis Tante und Onkel vertrieben wurden, endlich »live erleben«. Es existiert hier auf diesem Hof weiter dank der uralten Sprache der MaPulana. Wir fragen den Greis, wie es ihm und seinem kranken Arm gehe und ob er sich freue, dass sein Neffe zu Besuch gekommen sei. Etwas anderes fällt uns nicht ein, was uns peinlich ist, denn die Augen des namenlosen Onkels sprechen noch eine andere Sprache, die man nicht lernen muss, weil sie überall auf die gleiche Art und Weise gesprochen wird, auf dem ganzen Planeten Erde: Wir fühlen das Leid, das den Menschen dieses Kontinents angetan wurde, und wir sehen Südafrika und den Kruger-Nationalpark ohne elektrische Zäune, ohne Überwachung durch die Kirchenmänner der Buren, durch die Kirchen und Bibelpredigten. In diesen grau leuchtenden Augen verbrennt die Christenheit zu Asche. Und wir spüren, was es für den namenlosen Onkel einmal bedeutet haben musste, dass seine Leute in Freiheit leben und sterben konnten. Er wird nicht zusammen mit einem Rudel Löwen in den nächstbesten Supermarkt hereinspaziert kommen, um sich eine Flasche Wein zu kaufen. Dafür hat er kein Geld, und die Löwen wurden in seiner Heimat eingesperrt.
Tumis Onkel beantwortet uns endlich, wenn auch etwas zögerlich, unsere Fragen, sein Arm sei auf dem Weg zur Besserung, er sei unglücklich gestolpert und gestürzt, er sei aber mit seinem Leben zufrieden und er wolle niemandem etwas Böses wünschen – sein Neffe übersetzt die ganze Zeit –, er sei nicht wütend auf die Welt und die Menschen. Die Weißen erwähnt er mit keinem einzigen Wort.
Die Sonne geht allmählich unter, von Minute zu Minute wird es dunkler im grünen Tal von Bushbuckridge, und die junge und hübsche Frau im schwarzen Abendkleid, die auch barfuß läuft und uns Besucher aus Johannesburg und Chile und Polen hin und wieder neugierig beäugt, bringt endlich das Dokument, das vom König für Tumi ausgestellt wurde. Sie verbeugt sich vor unserem Freund, während sie ihm langsam und voller Ehrfurcht – Ehrfurcht vor dem geschriebenen und amtlichen Wort, aber auch vor Tumi, der in Johannesburg lebt, ein Auto besitzt und Englisch kann – den Briefumschlag mit dem königlichen Schreiben übergibt. Und der namenlose Onkel ist sichtlich stolz darauf, dass er als alter Mann in Tumis Verwandtschaft und vor allem beim König sowie beim Dorfvorsteher ein hohes Ansehen genießt und nicht nur auf den Alkoholiker reduziert wird, der sein Leben nicht im Griff hat.
Aber wir wissen nicht, ob er langsam erblindet, und wir beißen uns mehrmals auf die Zunge, da wir spüren, wie falsch es gewesen wäre, den Greis danach zu fragen.
Als die Sonne gänzlich untergegangen ist, wird es wie üblich in diesem Land stockfinster, innerhalb kürzester Zeit. Tumis Verwandtschaft lebt auf ihrem Hof ohne Strom, wahrscheinlich gibt es für solchen Luxus kein Geld, und wir sind froh, dass wir es noch vor der Finsternis des frühen Abends geschafft haben, uns die Avocadobäume und die Küche mit dem Feuerlagerplatz anzuschauen, aber auch die brachliegenden Koppeln und Felder sowie die Ställe für Hühner und Schweine, die wir leider nirgendwo angetroffen haben, auch nicht frei laufend auf den Wiesen.
»Sie haben ja alles und nichts«, sagt Tumi, als wir uns wieder ins Auto setzen.
Wir blieben wie geplant noch für zwei weitere Tage und Nächte in der Provinz Mpumalanga. In Bushbuckridge wohnt der Dorfvorsteher – wir fuhren auch zu ihm, um die restlichen Dokumente für die Umbettung des Leichnams aus Johannesburg abzuholen. Wir übernachteten bei Tante Herlina und aßen nach den Ausflügen mit ihr zusammen zu Abend. Am vierten Tag machten wir uns auf den Weg in die benachbarte Provinz Limpopo, um dem Dichter Vonani Billa und seiner Familie einen Besuch abzustatten und vor seinen Studenten an der Limpopo-Universität in Polokwane einen spontanen Vortrag über Nabokovs Lolita zu halten, die Lektüre in Billas Seminar; des Dichters Wunsch wurde von uns gewissenhaft erfüllt – was tut man nicht alles für Lolita!
Aber am letzten Abend in Acornhoek hatte ich Tumis Tante ein großartiges Beispiel naiver Kunst (ich hielt sie zumindest dafür) der Dogon aus Mali gezeigt – eine weiße Maske aus federleichtem Holz, die ich mir bei einer Souvenirhändlerin gekauft hatte, und zwar auf dem bewachten Parkplatz am Fuße der Treppe zum God’s-Window-Gipfel, weil sie mich an die länglichen Gesichter der sogenannten Greys aus dem kultigen Sci-Fi-Kinoklassiker Unheimliche Begegnung der dritten Art von Steven Spielberg erinnerte. Tante Herlina lachte nur die ganze Zeit über mein extravagantes Souvenir, sie verdeckte mit der rechten Hand kurz ihr Gesicht und sagte auf Afrikaans: »Ach! Diese schrecklichen Masken! Früher hat man sie benutzt, um uns Kindern Angst einzujagen! Aber es gibt keine Dämonen!«
Den Gipfel zu God’s-Window erklimmt man mühevoll über eine Treppe, allerdings steigt man die Treppenstufen gerne hoch, da den Berg schattenspendender Regenwald bewächst. Die Aussichtsplattform ähnelt einem Sprungbrett im Schwimmbad – so verführerisch wirkt der Abgrund, in den man am liebsten springen möchte; und das nächstgelegene Städtchen heißt Graskop, das sich im Rücken befindet, steht man dort auf dem Gipfel und blickt in Ruhe auf die gewaltige Landfläche mit Ebenen, Tälern und Bergen, die wie ein zweiter Kontinent anmutet – ein fremder, unentdeckter, versteht sich.
Aber die spektakuläre Aussicht, die dem Betrachter sogar ein wenig Angst vor der manichäischen Natur einflößt, ist in erster Linie eine Touristenattraktion: ein begehrtes Motiv für Selfies. Denn das wahre Gottesfenster haben wir in den Augen des namenlosen Onkels wie auch der Tante Herlina gesehen, das wahre Südafrika, und vielleicht auch auf dem Parkplatz für die Besucher des God’s-Window-Gipfels, auf dem wir selbst eine »unheimliche Begegnung« erlebt hatten. Ein schwarzer Südafrikaner, etwa fünfzig Jahre alt, parkte seinen SUV neben unserem Leihwagen, während wir die in Zeitungspapier verpackten Masken (ja, auch Dr. Naranjo hatte sich eine besorgt!) im Kofferraum verstauten; der Fremde beobachtete uns misstrauisch, und wir dachten automatisch an Polizeidetektive, die, getarnt als Touristen, gestohlene Kunstschätze oder Drogengeschäfte aufspüren sollen; der Südafrikaner kam plötzlich auf uns zu und wandte sich sofort an Rodrigo: »Entschuldigen Sie die Störung! Ich bin mir sicher, dass Sie aus Lateinamerika kommen!« Rodrigo bejahte es, endlich war er wenigstens ein bisschen verblüfft, und der fremde Mann bat ihn um ein gemeinsames Foto und freute sich wie ein verdammter Jäger über seine neuste Trophäe: »Ein solcher Besuch ist bei uns in Südafrika selten.« – »Rodrigo zum Anfassen!«, sagte ich.
Heute – es sind zehn Monate seit unserer Südafrikareise vergangen – ist mir eines klar geworden: Ich bin in diesem Land als Weißer unsichtbar gewesen, während Rodrigo auf manche schwarzen Südafrikaner exotisch gewirkt hat. Sie wollten sich mit ihm zusammen fotografieren lassen, wollten mit ihm sprechen, seine Haut und Haare anfassen – ihn erfahren. Und sie waren stolz darauf, dass jemand vom anderen Ende der Welt in ihr Südafrika gekommen war, um in den Drachenbergen von Mpumalanga den Gipfel God’s Window zu ersteigen und zu sehen.
Rodrigo, der ein paar Tage länger in Johannesburg blieb als ich, hatte einen krönenden Abschluss seines Interkontinentalfluges absolviert: Achtundvierzig Stunden vor seinem Rückflug nach Santiago de Chile hielt er an der Johannesburger Uni einen Vortrag über die Epoche des Kolonialismus in den beiden Amerikas mit dem Titel: The Dynamic of Captivity and the American Imagination. Den Text seines Vortrags kannte ich schon seit Langem, er hatte mir ihn bereits vor einem Monat aus Santiago geschickt, kurz vor seinem Flug nach Joburg, und zwar mit der Bitte um kritische Bemerkungen, und zwei Passagen gefielen mir während der Lektüre auf Anhieb, weil sie einen Bezug zur Kolonisationsgeschichte Afrikas herstellen: »The stories of the captives, real and fictional, were used in different modalities to depict the colonial world. These narratives illustrated the life of the pilgrims, and the settlers contributing with the formation of the colonial communities, cultural identities, and societies spreading all around the borders, frontiers, and the extensive territories of the Americas. // As a distinctive modality than the colonial reason took, the dynamic of captivity provides valuable sources to justify ideological projects for colonizing and defining the relationships in between enemies and allies, and between classifying and declassifying people.«
Mein chilenischer Freund erinnerte mich auch in einer E-Mail an ein Kant-Zitat, das uns helfen solle zu verstehen, wo man in Europa nach kulturgeschichtlichen, geistigen Ursprüngen des Kolonialismus suchen müsse. In Immanuel Kants Schrift Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von 1764 heißt es an einer Stelle: »Die Negers von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege. Herr Hume fordert jedermann auf, ein einziges Beispiel anzuführen, da ein Neger Talente gewiesen habe, und behauptet: daß unter den hunderttausenden von Schwarzen, die aus ihren Ländern anderwärts verführt werden, obgleich deren sehr viele auch in Freiheit gesetzt werden, dennoch nicht ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder Wissenschaft, oder irgend einer andern rühmlichen Eigenschaft etwas Großes vorgestellt habe (…).« Natürlich, der Aufklärer aus Königsberg, Autor des Hoffnung spendenden Essays Zum ewigen Frieden von 1795, ist eine Ikone der Freiheit und als Kritiker der Kritiker unantastbar, in unserem Europa eine Heilige Kuh, obwohl er sich in seinem Text über die Bewohner Afrikas als furchtbarer Rassist entpuppt: Aber bei allem Respekt – manchmal ist er bloß auch nur ein Kind seiner Epoche. Doch ich begreife langsam, worauf Rodrigo hinauswollte, als er das Zitat mit dem fragwürdigen Inhalt von Kant ins Spiel brachte: Die Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken oder gerettet werden und bei uns in Westeuropa ankommen, tragen in sich, wie es Rodrigo sagen würde, ein politisches Potenzial, das manipulierbar ist – die Viktimisierung und Stigmatisierung bestimmen ihre Identität, die ihnen aufgezwungen wird, und zwar von uns Europäern, unabhängig davon, ob wir für oder gegen die Aufnahme von Flüchtlingen sind.
Das komplizierte Verhältnis zwischen Gefangenen aller Art (»captives« können Einheimische, aber auch Siedler sein, die entführt oder verurteilt wurden, oder Flüchtlinge) und den fremden Eroberern und Zivilisationsbringern (»settlers«, »pilgrims«) ist für Rodrigo der Schlüssel zum Verständnis des Kolonialismus sowie der Entstehung postkolonialer Gesellschaften. Kurz gesagt: God’s Window in den Drachenbergen von Mpumalanga wurde während des Kolonialismus geschlossen, und der kluge Weitblick auch – diesen hatte allerdings der Rassismus noch nie angestrebt.
Verden-Bremen, im August und Oktober 2019