Decamerone – Akos Doma

© Fotograf

Vorbei

Eine Erzählung von Akos Doma

Erschienen in der Spreewald Anthologie V. Spreewald-Literaturstipendium 2012-2013

Es ist gleich da, sagt die Hebamme, und schließt die Tür hinter sich, zum wievielten Mal eigentlich, sie hat leicht reden, ist es mal da, wird alles anders, heißt es, soll es doch, anders werden, alles, darauf warten doch alle, dass alles anders wird, mir ist nicht bange, lange genug ist es nicht mehr anders gewesen, immer nur immergleich oder immergleich anders, jetzt kann es mal richtig anders werden, aber wenn ich das sage, versteht es wieder keiner, Schwamm drüber, schlimm nur, dass man, wenn es darauf ankommt, wieder einmal außen vor ist, dabei sein ist nichts hier, was tut man also, um nicht die Hände in den Schoß zu legen und Däumchen zu drehen, bis es da ist, man klickt vier Stunden Klassik oder sechs Stunden Entspannungsmusik an oder dreht eine Runde ums Haus, eine und noch eine und noch eine und dann noch eine hundertste, läuft sich die Füße wund, um auch eine davonzutragen, eine Wunde, aus Empathie, das ist das mindeste, was man in einer solchen Situation tun kann, wenn man schon außen vor ist, von Natur aus, bleib draußen auf dem Gang, hatte meine Mutter zu mir gesagt, sonst kriegst du danach keinen mehr hoch, sie sagte es natürlich anders, mit anderen Worten, meinte aber genau das, wegen der Schuldgefühle, die ich dann hätte, wenn ich sähe, hörte, welche Schmerzen ich ihr zugefügt hätte, sie meinte es nicht böse, sie wollte mich nur schützen, wie Mütter das nun mal tun, es war eine andere Zeit damals, in ihrer Jugend, fleischloser, idealistischer, verschämter, wenn man so will, so pflegte sie etwa zu sagen: die Liebe des Mannes ist die Welt, die Welt der Frau ist die Liebe, das sagte nicht etwa ihr Mann, der war gerade nicht da, war draußen in der Welt, nein, das sagte sie selbst, heute traute sie sich auch nicht mehr es zu sagen, heute wüsste auch sie es besser, und doch bleibe ich lieber draußen, außen vor, wer will schon riskieren, keinen mehr hoch zu kriegen, davon hätten wir am Ende alle nichts, ich verlasse mich lieber auf die Hebamme, sie macht das tagaus, tagein, mittendrin, statt nur dabei, geschweige denn außen vor oder gar auf und davon, sowas soll es nämlich geben, und selbst wenn ich dabei wäre, was könnte ich schon groß ausrichten, Händchen halten würde sich rächen, habe ich gelesen, am Ende schrien sie einen noch an, je verständiger, je liebevoller man sich gäbe, desto wütender, weil es halt raus musste, tja, und was jetzt, hatten wir uns gefragt, als uns der Doktor das rote Kreuzchen auf dem weißen Feld gezeigt und uns beglückwünscht hatte, in die Kirche gehen und eine Kerze anzünden, das wäre es gewesen, aber wir wussten gar nicht mehr, wo die stand, die Kirche, nur wo die Türme waren, wir sahen uns nur komisch an, dieses Fach hatte es in der Schule nicht gegeben, keine müde Silbe darüber, nur wie man es verhinderte, dafür alles über Dezimalbrüche und das d’Hondtsche System und das Laichverhalten von Stichlingen und agricola arat, und deshalb wurden wir auch immer weniger, im Grunde war es auch höchste Zeit, weniger zu werden, aber an sowas will ich jetzt nicht denken, nicht jetzt, da die Leningrader zu Ende geht und ich etwas Neues anklicken muss, die vierzehn anderen, die er komponiert hat, habe ich schon durch, seit dem Morgen, als es sich auf den Weg gemacht hat, die meisten blieben bei neun hängen, Symphonien, meine ich, aber Schostakowitsch kam auf fünfzehn, das ist gewaltig, andererseits ein Klacks im Vergleich zu Mozart, der brachte es auf über vierzig, freilich war das noch eine andere Zeit, eine andere Welt, da gab es noch Fruchtbarkeit und Lust und Verspieltheit, und da standen wir also und hatten unser Kreuz, was blieb uns anderes übrig, als in eine Buchhandlung zu gehen und ein Buch zum Thema zu kaufen, darauf lief doch immer alles hinaus, auf Bücher und Wissenschaft, was Wunder, dass wir weniger wurden, ob sie es behalten wolle, hatte der Doktor meine Mutter gefragt, es war seine erste Frage, zur Begrüßung gleichsam, noch bevor sie überhaupt Platz genommen hatte, und das tat sie dann auch nicht mehr, just diese Frage von allen Fragen dieser Welt, wo sie sich doch so gefreut hatte, nie hat sie ihm verziehen, dem Doktor, was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht, verstorben vermutlich, aber aus dem anderen bin ich geworden, irgendwie Glück gehabt, dass sie die richtige Antwort gab, ein Einzelkind blieb ich dennoch, obwohl mein Vater draußen geblieben war, es hat anscheinend nichts geholfen, wollen Sie es behalten, hatte er hinter seinem großen, sauber aufgeräumten Schreibtisch gefragt ohne auch nur den Blick zu heben, er hatte leicht reden, er war draußen in der Welt, sie drinnen in ihrer Welt der Liebe, für ihn war es Routine, business as usual, und doch hätte er einen anderen Ton anschlagen können, schließlich ging es um mich, um meine Haut, was hätte er wohl gesagt, wenn man ihn gefragt hätte, ob er seine schöne Praxis behalten wolle, er hätte gequiekt wie ein Schwein auf der Schlachtbank, so, jetzt habe ich das Richtige, die Alpensymphonie, die bringt mich durch die nächste Stunde oder so, wir waren ja auch reichlich blöd, sowas in der Küche mitzuteilen, sonntags kurz vor dem Mittagessen, während ihr Vater an der Spüle stand und Champignons putzte, einen Luftsprung vor Freude machte er jedenfalls nicht, als er es vernahm, wischte sich nur die Hände am karierten Geschirrtuch ab und ging hinaus, wortlos, vielleicht war das seine Art, seiner Freude Ausdruck zu verleihen, aber so ganz glaube ich das nicht, jedenfalls stellte er keine dummen Fragen, das muss man ihm lassen, vor neun Monaten war das, aber jetzt wird das Warten wirklich zu viel, das hält keiner aus, was zu viel ist, ist zu viel, auch das muss es geben, Männer, die noch den Mut haben, auf den Tisch zu hauen und zu sagen, ich gehe jetzt, mit Weglaufen oder Feigheit hat das nichts zu tun, ich werde nur mal um den Block laufen und wiederkommen, in Sichtweite bleiben, nur nicht in Hörweite, eine Kerze im Fenster oder weißer Rauch wäre mir am liebsten, die frische Luft tut gut, nur das Viertel ist noch gewöhnungsbedürftig, so trist und grau, so gleichförmig, Reihenhäuser in Reih und Glied, ein Fenster nach dem anderen und hinter jedem ein Bildschirm, früher wohnten wir in einem Zimmer in der Stadt, mitten drin statt nur dabei, jetzt brauchen wir mehr Platz, und den gibt es für unseresgleichen nur am Rand, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir auch hier heimisch werden, ich bin da ganz optimistisch, hier oben auf dem Bahndamm läuft es sich gut, hier ist man den Sternen ein Stückchen näher, von hier sieht man den Fluss und die alte Eisenbahnbrücke, endlich Luft und klare Sicht, und wie schön der Fluss funkelt, eine schimmernde Riesenschlange im Schoß der schneebedeckten Erde, und wie schön sich der Mondschein in ihm spiegelt, immer wieder muss ich an diese verflixte Geschichte denken, in der sich der Indianer die Kehle durchschneidet, weil er das Warten, die Schreie nicht länger erträgt, das ist natürlich Humbug, zum Lachen, einen Mann, der so sensibel wäre, müsste man sich erst schnitzen, das sind nur die Phantasien eines Selbstmörders, schon sein Vater hatte es getan und seine Enkelin nach ihm auch, sowas ist vererbbar, und doch wünschte ich, ich hätte die Geschichte nicht gelesen, so hart und heillos, amerikanisch eben, nie wieder werde ich etwas von ihm lesen, ich hätte auch nicht draußen bleiben dürfen, nie wird sie mir verzeihen, dass ich mein Wort gebrochen habe, sie ist so anders als meine Mutter, sie findet nicht, dass ich schützenswert sei, viel zu lange sei ich behütet und verhätschelt worden, nun sei es an der Zeit, dass ich ein Mann werde, hatte sie gesagt, natürlich mit einem Lächeln, einem Augenzwinkern, aber ich fürchte, sie könnte es ernst gemeint haben, ich zähle auf dich, es ist mir so wichtig, dass du dabei bist, zu zweit werden wir es schon schaffen, du und ich, hatte sie in einem intimen Augenblick im dämmrigen Zimmer in mein Ohr geflüstert und gefragt, du wirst doch dabei sein, nicht wahr, und ich hatte gesagt ja und es auch so gemeint, hatten wir doch schon den Vorbereitungskurs und die Gymnastik gemeinsam absolviert, aber glaubst du wirklich, dass uns das guttun wird, fragte ich, weil ich nicht in der Einzahl sprechen wollte, und sie antwortete, ich weiß es, es wird für dich ein unvergessliches Erlebnis sein, und ich nickte, sicher, das sagten alle Männer, die dabei gewesen waren, was sollten sie auch sonst sagen, manche filmten sogar mit, aber das würde ich niemals tun, obwohl es den Nerven sicher gut täte, dieses untätige Warten, diese Ohnmacht ist nichts für einen Mann, das liegt ihm nicht, er muss zuschlagen oder weglaufen, eins von beiden, oder dann eben mitfilmen, Hauptsache etwas tun, tätig sein, also ich habe das Gefühl, Frauen wussten früher besser Bescheid, wie Männer gestrickt sind, das Grundmuster erkennt doch wirklich jedes Kind, jedenfalls zogen sie es vor, mit sowas allein fertig zu werden, in Afrika machen es die Frauen noch heute so, verziehen sich in den Busch und hängen sich an einen Ast, und dann geht das ruck, zuck, habe ich gelesen, sie würden sich hüten, den Mann in die Nähe zu lassen, sie wissen noch einen Mann zu schätzen, der einen hoch kriegt, hier oben auf der Brücke ist es endlich still, nichts zu hören, die Welt ein ferner Widerhall, das Meeresrauschen in der Muschel, hier in der Mitte spürt man das Wippen der Brücke, ich habe auch keine Angst hinüberzusteigen, über das Geländer, hinter diesem Pfeiler, niemand soll mich für einen Selbstmörder halten, es gibt eben verschiedene Arten von Mut, einen Frauenmut und einen Männermut, jahrelang in Schützengräben sitzen und auf Granaten warten, in geschlossener Schlachtreihe auf den schussbereiten Feind zu zu marschieren, tief in die geladenen Gewehrrohre zu blicken und doch nicht wankend zu werden, das kann nur ein Mann, und nie käme er auf die Idee, seine Frau mitzunehmen, damit sie es zu zweit schafften, ich werde ihnen noch zeigen, was Mannesmut ist, werde ihnen zeigen, dass zwanzig Meter keine Höhe sind, dass ein Mann mit der Strömung fertig wird und es bis zum Ufer schafft, selbst im tiefsten Winter, im kältesten Wasser, niemand soll mich einen Feigling nennen, eine Memme, ein Weichei, nur muss halt der Sprung gelingen, kerzengerade nach unten, in Komárom, heute Komárno, gibt es eine fast identische Brücke, nur der Fluss darunter ist ein anderer, dort pflegte sie zu singen, erzählte man mir, viele Jahre nachdem sie in der Oper der nahen Hauptstadt ihr Debüt gefeiert und die Presse sich vor Begeisterung überschlagen hatte, von einem neuen Stern am Musikhimmel, der Nachtigall von Komárom, heute Komárno, war die Rede, doch dann geschah etwas, sie kam in die Hoffnung und verstummte jäh und kehrte in ihre Welt der Liebe zurück, zweiundzwanzig war sie, aber sie nahm es klaglos, geradezu heiter auf sich, das, was nicht anders sein konnte, sie vielleicht nicht anders wollte, niemand hatte je einen Seufzer, ein Wort der Reue aus ihrem Mund vernommen, hatte man mir erzählt, nur ging sie manchmal eben auf der Brücke über der Donau spazieren, viele Jahre später und ganz allein, nachdem der Vater ihres Sohnes längst verstorben war, und dann erklang es, diese himmlische Stimme auf der Brücke, die alle, die sie hörten, in ihren Bann schlug, erklangen Arien, die nur die wenigsten kannten, sie sprang nicht, sie sang, auch das Überleben ist vererbbar, nur redet nachher keiner davon, warum auch Reue, hätte sie nur gesungen, hätte sie manch anderes verpasst, ihren Sohn, der mein Vater wurde, und mich, der ich ihr Enkel wurde und nun auch draußen geblieben bin, für sie werde ich es tun, für sie allein, werde den Wellen entsteigen und nach Hause laufen, nass wie ich bin, werde eintreten und sagen, seht her, da bin ich, und sie werden mich ansehen und verstehen, nur falsch aufkommen darf ich nicht, ein Restrisiko bleibt bei diesem Wind, aber wo bleibt schon keines, ich habe ein gutes Gefühl, ich werde eintreten, nass und glitschig wie ich bin, und sagen, da bin ich, endlich gekommen, es ist vorbei.