Decamerone – Michail Schischkin
© Fotograf
Das Schiff aus weißem Marmor
von Michail Schischkin
Übersetzung: Dorothea Trottenberg
Ende des 19. Jahrhunderts wetteiferten alle Länder darum, wer die meisten Panzerschiffe bauen würde. Das schien das Allerwichtigste – möglichst viele Panzerschiffe zu besitzen.
In China herrschte damals die Kaiserin Cixi. Ihre Ratgeber erklärten ihr, wie wichtig der Bau einer Panzerschiff-Flotte sei, woraufhin sie in ganz China eine Flottensteuer erheben ließ. So wurde die gewaltige Summe von 30 Millionen Silber-Liang eingenommen. Von dem Geld ließ die Kaiserin ein einziges Schiff aus weißem Marmor bauen. Dieses lag am Ufer eines Sees in ihrem Sommerpalast, darin wurde die Teezeremonie ausgerichtet, und das war schön.
In aller Welt machte man sich lustig über Cixi. Und es schien wirklich überaus töricht, das Volksvermögen nicht für Kanonen und Panzerkreuzer auszugeben, sondern für Schönheit. Das erscheint der Menschheit mehrheitlich auch heutzutage noch töricht und unnütz.
Meine Großmutter war keine Kaiserin, sondern eine einfache Bäuerin aus dem Tambow-Gebiet, die drei Jahre lang die kirchliche Gemeindeschule besucht hatte. Das, was mir damals, in meiner Jugend, das Wichtigste auf der Welt zu sein schien – Poesie und Kunst –, lehnte sie ganz offen ab. Sie wollte, dass ich mich mit etwas Ernsthaftem beschäftige und nicht mit Poesie. Ich erinnere mich, dass ich als Oberstufenschüler mein absolutes Glück – die erste Publikation meiner Gedichte – mit ihr teilen wollte, und dass sie zur Antwort schwer seufzte und mitleidig sagte: „Na ja, alles ist besser, als sich mit den Raufbolden auf dem Hof herumzutreiben…“ Sie wollte natürlich nur mein Bestes. Die Oma hatte ein großes, unschönes Muttermal oberhalb der Lippe. Sie hat stets versucht, es mit der Hand abzudecken.
In ihrem Leben gab es wenig Raum für Schönheit. Ihr Mann, mein Großvater Michail Schischkin, wurde im Jahr 1930 während der Kollektivierung verhaftet. Er war kein Kulak. Doch er hatte aufbegehrt: „Warum nehmt ihr uns die einzige Kuh weg? Wovon soll ich zwei Kinder ernähren?“ Meine Oma blieb mit zwei kleinen Kindern allein zurück, und mein Vater schrieb sein ganzes Leben lang in den endlosen Formularen „Vater: verstorben“ anstatt „Vater: Volksfeind“. Und hatte zeitlebens Angst, sein Betrug könnte entdeckt werden.
Ich bin nach meinem Großvater Michail benannt. Auf einem alten Foto sind die beiden jung. Ihr Muttermal oberhalb der Lippe ist noch winzig klein. Sie trägt einen ganz und gar nicht bäuerlichen Sommerhut aus Stroh. Vielleicht hat der Fotograf ihr den Hut für das Foto gegeben? Sie hält ihn irgendwie linkisch fest, als habe sie Angst, der Wind könne ihn davontragen. Und mein Grossvater sieht ganz ähnlich aus wie ich vor dreissig Jahren.
Im Alter begann meine Oma, wirres Zeug zu reden und das Zeitgefühl zu verlieren. Sie erblindete und verbrachte ihre letzten Jahre in einem kleinen Zimmer bei ihrem Sohn, meinem Vater, wo sie tagelang im Dunkeln saß. Ich bemühte mich, sie anzurufen, wann immer ich Zeit hatte. Dann schrie ich ins Telefon, damit sie mich besser hören konnte: „Babuschka, hallo, ich bin´s, Mischa!“
„Mischa?“ fragte sie dann erschrocken. „Wer ist denn da? Mischa?“
Wahrscheinlich durchlebte sie jenen Tag immer wieder aufs Neue und glaubte jedes Mal, ihr Mann solle abermals verhaftet werden, und deshalb rief sie dann in den Hörer:
„Mischa! Wohin bringen sie dich? Bitte nicht! Lasst ihn los! Was macht ihr da!“
Ich versuchte, sie zu unterbrechen, sie zu beruhigen:
„Babuschka, aber das bin doch ich, dein Mischa! Beruhig dich!“
Aber sie hörte gar nicht zu und schrie nur, versuchte ihren Mischa wegzuzerren, ihn zu retten.
„Lasst ihn los! Was haben wir Euch denn getan? Lasst ihn los! Mischa! Mischa!“Meine Oma hat nie etwas von dem gelesen, was ich schrieb. Sie hätte es wohl auch nicht verstanden. Das, was ich damals schrieb, war nicht für die „breite Leserschaft“. Das, was ich später schrieb, auch nicht.
Ich konnte ihr einfach nicht erklären, warum das, was ich tat, so wichtig war. Sie verstand, warum es zum Beispiel wichtig war, jemandem einen Brief zu schreiben. Aber einfach so, ins Blaue hinein zu schreiben, war für sie eine Spielerei, ein eitler Zeitvertreib.
Ich versuchte indes auch gar nicht, es ihr zu erklären. Sie hätte nicht verstanden, dass auch ich im Grunde die ganze Zeit über einen Brief schreibe – nur dass dieser Brief niemandem dienlich ist und dass niemand darauf wartet. Ein Buch ist stets ein Brief an jemanden, der vielleicht noch gar nicht geboren ist. Doch dieser Brief muss unbedingt geschrieben werden, denn nur nicht geschriebene Briefe kommen niemals an.
Aber nicht nur meine Oma war der Ansicht, die Literatur sei eine unnütze Beschäftigung. De facto ist der weitaus überwiegende Teil der Menschheit dieser Ansicht. Man muss Geld verdienen für die Familie, und mit ernster Literatur verdient man nicht viel. Die Schriftsteller selbst halten sich natürlich für wichtig, doch von aussen ist es lächerlich zu hören, mit welcher Wichtigkeit sie über sich selbst, über Bücher, über Literatur sprechen.
Die Literatur hat versagt.
Nicht einmal die größten Bücher vermögen die Welt auch nur um ein Jota besser zu machen. Glauben Sie wirklich, der Mensch würde besser, wenn er ein gutes Buch liest? Glauben Sie, diejenigen, die meinem Land eine lichte Zukunft verhießen, dabei aber den Befehl zur Erschießung von Priestern erteilten, Lastkähne mit Geiseln an Bord versenkten, die Hungersnot in der Ukraine orchestrierten und meinen Großvater umbrachten – glauben Sie, die hätten die russischen Klassiker nicht gelesen? Die große russische Literatur, sie hat grossartig versagt. Als das Land am Scheideweg stand, haben da Tschechow, Tolstoi, Dostojewski, Turgenjew etwa geholfen, haben sie den Niedergang abgewendet, verhindert, dass das Land zum Gulag wurde? Sie haben etlichen Generationen geholfen, im Gulag zu überleben. Das ist das Einzige, wozu die russische Literatur tauglich ist.
Die große deutsche Literatur vermochte die Deutschen nicht davon abzuhalten, ihrem Führer mit Begeisterung in die Katastrophe zu folgen. In den letzten Jahren empfinde ich – angesichts der Annexion der Krim, die unser „Sudetenland“ geworden ist, angesichts des Krieges in der Ukraine – sehr deutlich das, was die deutschen Schriftsteller Ende der dreißiger Jahre empfanden. Die Machtlosigkeit der Bücher. Die Hilflosigkeit der Literatur. Ich kann mir vorstellen, was Thomas Mann oder Hermann Hesse in jenen Jahren empfanden, was Stefan Zweig in Brasilien durch den Kopf ging, bevor er sich das Leben nahm. Waren doch in jener Masse, die dem Führer begeistert in den Abgrund folgte, auch ihre Leser. Weswegen, für wen, wozu hatten sie geschrieben?
Für wen soll man schreiben, zeichnen, komponieren, wenn die wahre Kunst sich nicht auf den Zuschauer, den Leser, den Hörer stützten kann?
Wenn man ein Buch schreibt, ganz gleich, was für eines, darf man sich nicht auf den Leser stützen – einer wird immer behaupten, damit habe man die Literatur gerettet, einhundert werden immer behaupten, so einen Blödsinn könne man unmöglich lesen, und der Rest der Menschheit wird nie etwas von diesem Buch hören.
Auf die Frage, wer überhaupt noch neue Bücher braucht, da doch Jahr für Jahr ohnehin Millionen neuer Bücher erscheinen, gibt es nur eine ehrliche Antwort: Niemand.
Und gerade darin liegt die Stärke der Literatur. Nicht die Schwäche, sondern die Stärke.
Ein Flugzeug fliegt nicht deshalb, weil es sich auf die Luft abstützt. Das haben wir alle in der Schule durchgenommen. Wenn sich ein Flugzeug auf die Luft abstützt, stürzt es unweigerlich ab. Das Flugzeug fliegt, weil sich oberhalb der Tragflächen ein luftleerer Raum bildet, ein Vakuum, das das Flugzeug nach oben, gegen den Himmel zieht.
Um sich von der Erde zu lösen und aufzufliegen, stützt sich die wahre Literatur nicht auf das lesende Publikum, sondern sie überlässt sich dem Sog nach oben, gegen den Himmel. Die Literatur saugt sich in den Himmel hinein und nimmt den Leser mit.
Meine Oma war eine unübertroffene Meisterin darin, allerlei menschliche Figürchen und bizarre kleine Tiere aus Teig zu backen. Ich weiß noch, dass ich ihr gerne zusah, wenn sie den Teig knetete und daraus Figürchen formte. Sie ließ mich ebenfalls kneten – wie herrlich mürbe und weich der Teig war! Bei mir kamen nur lauter Missgeburten heraus, bei ihr hingegen die erstaunlichsten Wesen, und ihre Phantasie kannte keine Grenzen.
In diesen wunderbaren Momenten wurde sie auch zu einer Kaiserin, zur Gebieterin über den Teig, aus dem sie ihre eigene Welt erschuf.
Jetzt ist es zu spät, ihr noch etwas zu erklären, doch heute würde ich es zumindest versuchen. Aber vielleicht ist es noch nicht zu spät, vielleicht war es nie zu spät und wird es nie zu spät sein. Schließlich muss man erklären, warum das, was man macht, so wichtig ist. Weißt du, Babuschka, würde ich ihr sagen, die Kunst – das ist auch ein Teig, nur ein ganz besonderer. Er besteht aus Zeit. Wenn du ihn knetest, ist er mürbe und weich. Du kannst alles Mögliche daraus formen. Und alles, was du daraus machst, ist wirklich. Wie das weiße Marmorschiff. Wo sind denn jetzt all die Panzerschiffe von damals? Das Schiff der Kaiserin Cixi aber ist noch heute unterwegs dahin, wo sie nie ankamen und nie ankommen konnten.
Weißt du, Babuschka, würde ich ihr sagen, beim Schreiben kann man sich in jede Zeit und an jeden Ort versetzen. Es scheint nur so, dass ich jetzt hier bin. In Wirklichkeit bin ich jetzt in der Küche unseres Hauses in Udelnaja, das seit langem abgerissen ist. Seltsam, das Haus steht nicht mehr, aber seine Wände sind gesättigt vom köstlichsten Duft der Welt – die erste Portion Gebäck ist schon im Ofen. Wir sitzen am Tisch, der ganz weiß ist von verschüttetem Mehl, wir sind selbst über und über mit Mehl bestäubt und formen Tierfigürchen aus Teig. Deine Hände sind geschickt und flink. Es kann nicht sein, dass diese Hände nicht mehr sind – da sind sie doch, sie drücken Rosinenaugen in einen kleinen Teigkloss.
Und gleichzeitig bin ich jetzt auf dem Schiff aus weißem Marmor. Der Wind kräuselt das Wasser des kaiserlichen Sees, die Seerosen wiegen sich, und durch dieses Gewoge hat man das Gefühl, dass das Schiff sich bewegt. An Bord sind viele Menschen, man hört verschiedene Sprachen. Plötzlich kommen ein paar heftige Windböen auf. Jemandem wird der leichte Sommerhut vom Kopf gerissen und davongeweht. Alle lachen und deuten auf den Hut, der in Richtung Seerosen davonschwimmt. Es ist der Hut von dem Foto. Und du, ganz jung noch, lachst ebenfalls, hältst mit den Händen die flatternden Haare zusammen, und dein Muttermal oberhalb der Lippe ist noch winzig klein. Mein Großvater, der aussieht wie ich in meiner Jugend, hält dich umarmt und schützt dich vor den Windböen. Und alle sind noch am Leben.
Ich weiß, wohin dieses weiße Marmorschiff fährt.
Und ich nehme alle mit.