Decamerone – Einleitung Earend
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Il Decameron von Giovanni Boccaccio
Eine Einleitung von Prof. Dr. Elisabeth Arend
Im Jahr 1348 wütet die Pest in Florenz.
Dico che di tanta efficacia fu la qualità della pestilenzia … che non solamente l’uomo all’uomo, non solamente della infermità il contaminasse ma quello infra brevissimo spazio uccidesse. (p.18/17f.)
Giovanni Boccaccio, ein ausgebildeter Bankmensch, lässt schon länger das Zählen von Geld und den Banktresen sein, um das zu tun, was ihm am Herzen liegt: er zieht sich in seine große Bibliothek zurück. Als Intellektueller und bulimischer Leser kennt er die gesamte – damals war das noch ansatzweise möglich – geisteswissenschaftliche Forschung und Literatur seiner Zeit. Sein Decameron zeugt davon. So schreibt er also seine Novellensammlung, beendet sie 1352 und gibt ihr einen gelehrten griechischen Titel. Dieser bedeutet: „Zehntagewerk“. Sein Buch erzählt in einer Rahmerzählung davon, dass eine Gruppe von jungen Leuten in eben jener Pestzeit zusammenkommt – ein Kontaktverbot gab es damals nicht. Man beschließt, die Stadt mit ihren vielen Ansteckungsgefahren zu verlassen und aufs Land zu gehen.
… intendo di raccontare cento novelle, o favole o parabole o istorie che dire le vogliamo, raccontate in dieci giorni da una onesta brigata di sette donne e tre giovani nel pestilenzioso tempo della passata mortalità fatta … (p. 9/13)
Sie hoffen, so Zeit zu gewinnen, Zeit, um das Abflauen der Epidemie in Sicherheit abzuwarten und als Gruppe das „social distancing“ zu praktizieren.
E erano alcuni, li quali avvisavano che il viver moderatamente e il guardarsi da ogni superfluità avesse molto a così fatto accidente resistere: e fatta lor brigata, da ogni altro separati vivevano, e in quelle case ricogliendosi e racchidendosi, dove nessun infermo fosse e da viver meglio … (p.19/20)
Wie aber wollen sie diese Zeit nutzen? Darüber wird debattiert, und da die zehn jungen Leute durchaus den Habitus der damals sich formierenden bürgerlichen Mittel- bzw. Oberschicht haben, versagen sie sich Pest-Parties – darauf weist der Erzähler explizit hin. Sie suchen nach einem anderen Zeitvertreib, mit dem sie die durch die Epidemie kommen und damit auch einen Beitrag zum Erhalt der durch die Pest bedrohten gesellschaftlichen Ordnung leisten.
Natural ragione è, di ciascuno che ci nasce, la sua vita quanto può aiutare e conservare e difendere … (p.32/53)
So kommen sie auf das Geschichtenerzählen, und nicht nur dies: Sie geben sich eine eigene Ordnung in ihrem idyllischen Quarantänequartier, verabreden zeitliche Abläufe und andere Regelungen. Auch zwischen den Geschlechtern bleibt, von Scherzen und Erröten abgesehen, alles in den Bahnen, die das 14. Jahrhundert und die Oberschicht als gesittet bestimmt hatten.
Zu dieser Ordnung gehört: zehn Geschichten werden an zehn Tagen erzählt; jeden Tag hat ein*e andere*r Person den „Vorsitz“, bestimmt über Thematik und Reihenfolge der Erzähler*innen – ein nahezu demokratisches Vorgehen also, mit dem alle sich einverstanden erklären.
…novellando (il che può porgere, dicendo uno, a tutta la compagnia che ascolta diletto) questa calda parte del giorno trapasseremo. … (p. 47/ 111 f.)
Zusätzlich zu diesen Entscheidungen wird eine klare Struktur der Woche festgelegt: Von Montag bis Donnerstag wird in der bestimmten Reihenfolge erzählt. Dies geschieht am Nachmittag und im Freien, wenn die größte Hitze vorüber ist. Die Abende werden gesellig mit gemeinsamem Essen, mit Tanz und Liedern verbracht, bevor sich alle gesittet in ihre Schlafräume begeben. Als gläubige Christen wählen die jungen Leute den Freitag als Tag der religiösen Besinnung. Der Samstag hingegen ist der Körperpflege und dem Fasten vorbehalten, der Sonntag wird ebenfalls vom Erzählen ausgenommen und soll allgemeiner Muße, nicht zuletzt auch der Besinnung auf neue Geschichten, dienen.
E il sabato appresso usanza à delle donne di lavarsi la testa, di tor via ogni polvere, ogni sucidume che per la fatica di tutta la passata settimana sopravenuta fosse … (p. 316/6) Quivi quando noi saremo domenica appresso dormire adunati, avendo noi oggi avuto assai largo spazio di discorrere ragionando, sí perché sarà ancora più tempo da pensare avrete e sí perché sarà ancora piú bello che un poco si ristringa del novellare la licenzia … (p. 317/8)
Das Decameron versteht dieses Erzählen und die damit verbundene Freude durchaus als ein therapeutisches Mittel, ein Mittel gegen Einsamkeit, aber auch gegen Krankheit. Die frühe Medizin hatte in Traktaten erläutert, dass Krankheiten auch durch entsprechende psychische Einstellungen gelindert werden könnten – das Lachen gegen die Pest. Und weiter liest man ganz zu Beginn des Decameron: Wenn man schon nicht in die Welt hinausziehen kann, dann hole man sich die Welt doch durch Erzählungen zu sich nach Hause. Ganz explizit hat der Erzähler die Frauen im Blick: Während die Männer geschäftig in der Welt herumkämen, säßen sie meist zuhause und nicht wenige fielen in Depression. Gegen Einsamkeit, Isolation und Traurigkeit setzt Boccaccio seine Novellensammlung als ein Werk des Mitleids bzw., moderner formuliert, der Solidarität, und schreibt diese Haltung als verbindliche Ethik im ersten Satz des Werks fest:
Umana cosa è aver compassion degli afflitti (p. 5/2) …
Damit die hundert Geschichten dann auch wirklich welthaltig sind, damit sie ablenken, amüsieren und nebenbei auch noch belehren, setzt der Erzähler auf Vielfalt – komische und ernste Geschichten wechseln ab, Kritik an Heuchelei und Doppelmoral stehen neben Geschichten, die Tugend und Enthaltsamkeit preisen. Frauen wie Männer sind klug, erfinderisch oder auch mal dumm, Männer nutzen ihre gesellschaftlich legitimierte Dominanz aus oder sind friedlich und solidarisch. Nonnen und Mönche sind fromm oder nicht, leben im Spannungsfeld zwischen kirchlicher Sexualmoral und natürlichen Bedürfnissen.
Dogmatische Enge legt und lehnt das Decameron ab, plädiert nachhaltig für Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen, für das Recht auf Leben und Lebensfreude, bleibt dabei aber immer im Rahmen dessen, was sein Jahrhundert an geistiger, religiöser und sonstiger weltanschaulicher Orientierung als verbindlich definierte. Und dieses 14. Jahrhundert war eine Zeit des Übergangs. Da gab es eine Neubestimmung in vielen Bereichen des Denkens, der Wirtschaft, des Sozialen. Wer dies wollte, musste sich mit den beharrenden Kräften auseinandersetzen, die Neugier, Veränderung und Lebensfreude nach wie vor als Auflehnung gegen die gegebene Ordnung ablehnten. Ein Revolutionär war Boccaccio nicht, wohl aber ein neugieriger Intellektueller mit wachem Blick für das Leben und die Menschen.
Die Anknüpfungspunkte zwischen diesem großen Text der Weltliteratur und unserem globale°- Projekt sind offensichtlich, die Parallelen zwischen den Schilderungen der damaligen Veränderungen des sozialen Lebens und den aktuellen Situationen im Zeichen von Covid19 und Corona, zum Teil verblüffend. Ganz nah ist das Decameron auf jeden Fall in seiner Intention, die Literatur als Mittel gegen Isolation, Angst und Depression zu verstehen und den virtuellen Raum für Kreativität und Ausdruck zu öffnen. … Und für den Samstag schreiben wir nicht das Waschen der Haare vor, schon gar nicht nur für die Frauen, wie Boccaccio das tut, sondern stellen neue Geschichten auf unsere Webseite.
(Angaben nach: Giovanni Boccaccio: Decameron. A cura di V. Branca. Torino: Einaudi, 13.Ed., 1997)