"Fronteinsatz statt Dichterlesung“
Post aus Czernowitz: Eigentlich sollte der junge Poet Jan nach Deutschland reisen, aber dann wird er bei einem Behördengang eingezogen.
„Meine Reise nach Deutschland muss ich absagen. Am Mittwoch gehe ich in die Armee.“ Diese Nachricht bekomme ich auf Messenger am späten Abend von Jan, den ich für zwei Literaturveranstaltungen Ende Oktober in Deutschland vermittelt habe. Jan ist eine der jungen, poetischen, vielversprechenden Stimmen der gegenwärtigen Literaturszene in der Stadt. Das Kulturinstitut Atelierhaus Vahle in Darmstadt wollte für den „Literaturtag Czernowitz“ junge Stimmen haben. Für einen Auftritt auf dem „globale° – Festival für grenzüberschreitende Literatur“ in Bremen waren ebenfalls zwei Autorinnen und Jan eingeladen. Ihre Gedichte werden von unserer DAAD-Kollegin für diese Veranstaltungen übersetzt.
Für Jan wollte ich eine Ausreisegenehmigung beim Kulturministerium beantragen. Eine Voraussetzung dafür ist allerdings, dass er seinen Militärschein bei der Militärbehörde aktualisiert. Zuletzt war er 2020 dort, das teilte er mir mit, als ich fragte, was mit seinen jeweiligen Unterlagen ist. Und er war bereit, sich dort zu melden, im Gegensatz zu so vielen, die dieser Behörde möglichst fernbleiben. Nun wurde mobilisiert. Er hat anderthalb Tage Zeit und muss um 9.00 Uhr mit persönlichen Sachen bei der Behörde erscheinen. Das alles teilt mir Jan mit. Er setzt Smileys hinter seine Nachrichten. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, außer dass wir schauen sollten, was er von den Sachen brauchen kann, die wir für solche Anlässe und für unsere mobilisierten Kollegen gerade im Büro liegen haben. „Mir wird schon von allen Seiten Hilfe angeboten“, schreibt er. „Und ich sitze zu Hause und genieße die vorletzte Nacht in Rosch.“
„Was ist das?“, fragt er, als er die Torniquets sieht.
„Wo wohnen Sie denn?“ frage ich. Jan nennt mir eine Straße, wo es hinter dem Stadtzentrum steil hinunter geht, am Anfang der ehemaligen Vorstadt Rosch. Von dort aus hat man einen traumhaften Blick auf die hügelige Landschaft des Stadtteils, der bis 1940 von vielen Bukowina-Deutschen bewohnt war. In der Straße lebte einst der jiddische Dichter Elieser Steinbarg. „Hoch Balkon über Rosch“, schrieb Rose Ausländer im Gedicht „In memoriam Elieser Steinbarg“. All das kommt mir in den Sinn, vielleicht weiß Jan das auch. Ich finde es jedoch nicht angemessen, in der Situation Gespräche über Literatur anzufangen, und biete ihm nur an, dass er am nächsten Tag in der Universität vorbeikommt und ein paar Dinge mitnimmt, die ihm nützlich sein können. „Wenn Sie darauf bestehen, dann komme ich.“ Ich bestehe darauf.
Ein Rucksack, zwei T-Shirts, Schuhe, zum Glück gibt es seine Größe, eine Regenjacke, ein paar andere Kleinigkeiten und vier CAT-Tourniquets liegen für Jan bereit, als er am nächsten Tag vorbeikommt. Von Tourniquets haben wir nur noch ganz wenige, aber für Jan muss es sein. „Was ist das?“, fragt er, als er sie sieht. „Hier geht einer in den Krieg, der nicht einmal weiß, was Tourniquets sind“, denke ich, antworte aber nur: „Die sind lebenswichtig.“ „Hoffentlich werde ich geschult, wie man die benutzt“, sagt Jan. Das hoffe ich auch. Sehr. Der Kollege S. kommt und will sich die Geschichte von Jan genau anhören. Er holt ein Fernglas und eine Powerbank aus seinem Büro. „Nimm alles, du wirst es brauchen, und wenn nicht, dann gib es einem Kameraden.“
Das Unglaublichste an Ganzem ist: Jan strahlt, als hätte er gerade erfahren, dass er mit einem internationalen Preis ausgezeichnet wurde. „Sie haben aber schon geahnt, wie das Ergebnis Ihres freiwilligen Gangs zur Militärbehörde sein kann?“, frage ich. „Ja, absolut“, sagt Jan, „und ich kann Ihnen sagen, es fühlt sich so an, als wäre mir ein großer Stein vom Herzen gefallen.“ Das muss zweideutig sein, ich habe zu Jan jedoch kein so nahes Verhältnis, dass ich danach ausführlicher fragen möchte.
„Die Sachen soll ich Ihnen zurückbringen, nicht wahr?“, fragt er grinsend. „Unbedingt“, antworte ich im selben Ton. „In einem Jahr“, sagt Jan, „ich habe mir vorgenommen, dass ich in einem Jahr zurück bin.“ „Ich wünsche Ihnen, dass Sie noch früher zurückkommen“, erwidere ich und werde den Gedanken nicht los, dass jedes Wort, das wir wechseln, zweideutig ist, und wir beide das wissen. Wir umarmen uns. „Gott bewahre Sie“, sage ich. Das sagen wir immer, denn auf wen soll man denn sonst hoffen, wenn man in das aktuelle Weltgeschehen involviert ist. „Ich melde mich“, verspricht Jan.
Später schreibe ich meiner Kollegin S. von Jans Besuch. Mit ihr gaben wir vor zwei Jahren eine kleine Anthologie der jungen Dichtung in Tscherniwzi heraus, in der auch Gedichte von Jan waren. Außerdem betreute sie Jans Masterarbeit. „Mir sagte er zum Abschied, dass er die kommende Zeit als eine Art Vaterschaftsurlaub für die Erziehung seines inneren Kindes betrachtet“, schreibt sie zurück, „gut, dass es telefonisch war und er nicht sah, dass ich weinte.“