Decamerone – Marko Dinić

© Fotograf

Ivan Ras oder sein Antrag

von Marko Dinić

Der hagere Mann, der vor ihm saß, drehte sich um und bat ihn um Hilfe. Mit einem kurzen Blick unter die Brillenränder las Ivan Ras die Abfolge G-024 auf dem Zettel, den der andere in seiner Hand hielt — die Anzeige über ihnen rief gerade die Nummer G-033 auf, in Zimmer 9 zu kommen. „Helfen Sie mir“, sagte der Mann, dessen Gesichtszüge den Anstrich stummer Verzweiflung trugen: „Helfen Sie mir“ noch einmal — ein weiteres Mal. Schon lange hatte sich Ras das Mitleid gegenüber Antragstellern verboten, und über in Abwehrhaltung gebrachte Hände und ein gleichgültiges Tut mir leid ging seine Antwort auch nicht hinaus, woraufhin der andere sich wieder der Anzeige zuwandte und nun eine mit Aktenordnern beladene Frau im Vorübergehen um Hilfe bat. Seine ganze jämmerliche Art widerte Ivan Ras an. Er hatte die Nummer G-074. Die Luft im Wartesaal war stickig. Die Sessel waren wie bei der Premiere eines grotesken Stücks bis auf die letzten Reihen belegt. Drumherum standen nochmal so viele Leute — ihre Körper kurz vor Auf- oder Einbruch. In der hintersten Ecke des Saals gestand die Stadt Wien den Kindern des zusammengepferchten Viehs ein wenig Hartplastik zum Spielen zu. Auf Ras’ Schoß lag ein Bündel Papiere, die er für seinen schon vor acht Wochen abgegebenen Antrag nachreichen musste. Obwohl ungewöhnlich viel Zeit seit der Abgabe verstrichen war und bei jedem anderen in derselben Lage sich mittlerweile Unruhe breitgemacht hätte, verlor Ivan Ras keinen Gedanken daran. Er spielte das Spiel schon lange. Und er ließ auch keine Regung über sein Gesicht huschen, der Antragsblick, wie er ihn nannte, eine Miene aus Graphit, der zweiten, dickeren Haut geschuldet, die er sich vor Jahren mal aus Not hatte wachsen lassen, um sich nicht an alles Typische hier anpassen zu müssen. Manchmal, schaute er in den Spiegel seines winzigen Badezimmers, konnte er nicht genau sagen, wer dieser zum ewigen Linkshändertum Verdammte war, der ihn da ansah — in der Manier alter Westernstreifen ein Rowdy ohne Pferd, dessen schneller Schuss lediglich dazu diente, die rauen Winter in einer ihm stets feindlich gesinnten Umgebung zu überstehen. Das Gefühl Corbuccis Il Grande Silenzio sehen zu wollen, ja in demselben Augenblick aufzustehen und ihn sehen zu müssen, übermannte ihn. Er blieb auf dem knallgelben Magistratssessel sitzen und schaute auf die Uhr. Ein paar Sitze neben ihm heulte ein Säugling im Arm eines Jungen auf, der bei näherer Betrachtung nicht der Vater des Kindes sein konnte. Er hielt das Stoffbündel derart steif im Arm, als müsste er Schicht schieben für eine erbarmungslose Mutter, die keine Anstalten machte, jemals wieder zurückzukehren — zu wem auch immer. Der längst entrückte Wunsch, selbst einmal gerne Vater gewesen sein zu wollen, streifte Ras’ Gedanken. Er stand auf und ging auf die Toilette, wo er mit einem selbstgeschnittenen Plastikröhrchen eine Line zog. Es knisterte kurz. Das Bild vom guten Ausländer, das schwarze Pünktchen vor seinen Augen auseinander zu reißen drohten, setzte sich schlagartig wieder zusammen und ihm wurde warm ums Genick. Eine leise Wehmut erfasste ihn. Er erinnerte sich an einen alten Schulfreund zuhause, mit dem er vor einigen Tagen telefoniert hatte. Dieser hatte Ras vom Herbst erzählt, der in groben Schwüngen seine Heimatstadt von einem Tag auf den anderen in satte Farben getränkt hatte. In Wien, wo Ras seit über sieben Jahren hinter dem Herd eines Balkan-Grills ausdörrte, kündeten nur die nassen, kahlen Straßenzüge vom Umschwung des Wetters. Der Rest war eine Stuck- und Betonwüste, deren Prachtbauten und zurechtgestutzte Parks nichts an der Tatsache ändern konnten, dass Ivan Ras für ein aufrichtiges Leben einen aufrichtigen Herbst brauchte: Nichts konnte die Unrast glätten, die sich seit einiger Zeit wieder in ihm aufgebauscht hatte und auf grässliche Art jener Unrast glich, die ihn einst zum Auswandern bewegt hatte. Denn viel mehr als sein hart erarbeitetes, für das Ohr durch ein weich-rollendes R ungemein angenehmes, beinahe akzentfreies Deutsch und eine schleichende Amphetaminsucht hatte er nach all den Jahren auch nicht vorzuweisen: zwei für den alljährlichen Antrag in Sand gesetzte, alibimäßige Studiengänge, die Beziehung mit Dunja, die in einem dreimonatigen Gefängnisaufenthalt und seinem beinahen Rausschmiss aus der Stadt gegipfelt war, die Arbeit, für die er nurmehr Ekel empfand, von der er täglich durchschwitzt und dreckig und fettig und rußig und stinkend nachhause kam, in jenen Verschlag, den er sich mit zwei Arbeitern aus Polen teilte. Schließlich der Antrag, der jedes Jahr aufs Neue jedwede Hoffnung auf die längst überfällige Veränderung seines Status’ im Vorhinein erstickte und ihn immer mehr abstumpfen ließ — seine bisherigen Wiener Jahre hindurch war Ivan Ras zum Kriechtier geworden. Er schaute erneut auf die Uhr. Wieder im Wartesaal stellte Ras sich neben eine der Säulen und beobachtete um ihn das Treiben: drei Frauen, deren Schleier unterm kühlen Neonlicht schimmerten — lachten beinahe gleichzeitig auf; ein Kind in der Spielecke, das einen Plastikball in den Händen hielt und hineinbiss, nur um daraufhin verwunderten Blickes im Raum nach einem Erwachsenen zu suchen; ein Junge, der, mit Stöpsel im Ohr, auf den Bildschirm seines Handys starrte und den Kopf leicht zu einem ebenmäßigen Rhythmus wippte; vor dem Kopiergerät: eine Schlange wartender, gelangweilter Gesichter, und dahinter: weitere gelangweilt wartende Gesichter, und dahinter …; ein nach allen Seiten hin ausscherender Kaffeefleck unter Ras’ Sohle; zwei Männer in Arbeitsmontur, die sich lebhaft auf Türkisch unterhielten, das Türkische wiederum, das nicht mehr so fremd klang wie damals, beim ersten Antrag, als Ras nur seine Muttersprache und die wenigen Fetzen Deutsch im Gepäck hatte; von irgendwo verebbte auch ein markiger arabischer Dialekt an seinem Ohr, dann Serbisch, Kroatisch, Bosnisch — oder alle drei zusammen; und schließlich, wie aus dem Hinterhalt, geradezu Fehl am Platz, als hätte es jemand hier vergessen und nun in Eile wieder abgeholt, selbst für Ivan Ras´ überraschend: ein französisches Wort — mittlerweile konnte er sie alle auseinanderhalten, die vertrauten Zungen unter sich. Der Mann, der vor ihm gesessen hatte, Nummer G-024, wenn ihn nicht alles täuschte, saß immer noch an seinem Platz — die Anzeige rief gerade die Nummer G-034 auf, in Zimmer 11 zu kommen. Kurz darauf schien es so, als würde Ivan Ras in ein Gespräch verwickelt werden: Eine Frau in ungefähr seinem Alter erzählte ihm lebhaft — ohne dass er sie vorher auch nur mit dem leisesten Blick dazu aufgefordert hatte — von einem sonderbaren Umstand, dem nach sie im Besitz des Schlüssels zum Haus ihrer Eltern war, das Haus wiederum im Krieg zerstört und im Sommer dieses Jahres abgetragen worden war. Sie besaß demnach also, erklärte sie ohne einen Funken Wehmut in der Stimme, den Schlüssel zu einem Haus, das es eigentlich nicht mehr gab, in einem Land, das es heute auch nicht mehr in der Form gab, in der sie es noch in Erinnerung hatte. Wie berauscht umriss sie kurze Episoden ihrer Jugend, die schwere und gnadenlose Hand ihrer Mutter, die durchtanzten Nächte in schäbigen Dorfclubs, die Hitze im Sommer, die Milde des Winters, die gleißenden Lichter der Vorstädte, damals, als sie zum ersten Mal die Hauptstadt besuchte, die Kinos, die damals noch nicht verboten waren — und nicht zuletzt die Selbstverständlichkeiten, die heute keine mehr waren. Während die junge Frau ihre Geschichte erzählte, mehr zu sich selbst redend als zu Ivan Ras, fixierte dieser wie betört ihre zarte, von blassen Adersträngen durchblutete Hand, die einen Zettel mit der Abfolge G-073 umklammert hielt, und schmunzelte über die vermeintliche Nähe zu seiner Zahlenabfolge; diese gleichgültige Nähe, die auf sonderbare Weise die räumliche wie zeitliche Distanz zwischen ihnen beiden umriss, die Zuneigung Ras´ ihr und ihrem durcheinandergezwirbelten Haar gegenüber, den apfelgrünen Augen, und ihrer Stimme, die von einer ernstzunehmenden Zigarettensucht zu zeugen schien —, während die Anzeige über ihnen die Nummer G-036 aufrief, in Zimmer 12 zu kommen, ohne dass er einmal auf die Uhr geschaut hätte. Um sie herum staute sich die wartende Masse immer mehr zu einem Knäul, faul und dröge, Geräusche von zerknülltem Papier, Rascheln, das Fiepen leerer Kopiergeräte, der aufsteigende und sogleich verebbende Gestank von vollgeschissenen Windeln und Talg, ein Ivan Ras aus dem Hinterhalt packender Graus, der Duft der jungen Frau vor ihm: Moschus, Schweiß, Frühstücksreste im Verdauungstrakt, zähe Wartezeit für besorgte Gesichter, ängstliche Gesichter, Körper an Körper, so dicht bei einander, dass man denken konnte, auf einem Sonntagsmarkt zu sein, dazu das Kindergeschrei, tiefe Seufzer, Stimmengewirr — Sprachen über Sprachen, die sich wiederum vor andere Sprachen drängten, nur um hinter anderen Sprachen zu landen, Sprachstapel, -türme, – trümmer, -verwirrung. Ivan Ras kniff die Arschbacken zusammen, während die junge Frau ihre Ausführungen mit einer Frage und großen, auf Antwort wartenden Augen abschloss. Der Gedanke, sich im nächsten Moment übergeben zu müssen, kam angesichts der noch abzusitzenden Zeit einer aufrichtigen Erleichterung gleich. Im nächsten Augenblick jedoch spürte er einen angenehmen Druck an den Schläfen, und als würden warme Wellen ihn umspülen, überließ er sich dem gutbekannten Gefühl. Sein Kiefer verselbstständigte sich. Nichts als Luft und Zähne, auf denen er zu kauen hatte. Der gute Stoff setzte ihm jetzt ordentlich zu, was er mit einem zufriedenen Grinsen goutierte, das sein Gegenüber verstohlen erwiderte. Schweiß und Schande über Ivan Ras! Und kaum hatte er sich einen Lidschlag lang zusammengerissen, schon ließ auch eine eher ungelenke Bemerkung seine Gesprächspartnerin wie vor Schreck erstarren. Nur ein unwirsches Hmm entfloh noch ihrem Mund, da war sie bereits am anderen Ende des Raumes und erzählte, den vertrauten Bewegungen nach zu urteilen, einem jungen, Ivan Ras nicht unähnlich aussehenden Mann die Geschichte eines Schlüssels ohne Heim. Die Anzeige über den Köpfen der Anwesenden war zu dem Zeitpunkt schon für einige Sekunden ausgefallen, ohne dass diese oder jene Wartenden, oder gar Ivan Ras selbst es bemerkt hätten. Er schaute auf die Uhr. Es sollte alles nicht sein, dachte Ras sich — und der Mann, der, nachdem Ivan Ras den überquellenden Wartesaal des Wiener Magistrats gegen halb acht in der Früh heute morgen betreten hatte, mit nichts als diesem Bündel an nachzureichenden Papieren unterm Arm, und einen freien, knallgelben Sessel fand, auf den er sich sogleich auch setzte — der Mann, der vor ihm gesessen hatte und ihn in einem unscheinbaren Augenblick, den Anstrich stummer Verzweiflung in der Miene tragend, um Hilfe bat? Er saß immer noch dort! G-035 in Zimmer 8. Kein Fünkchen Trost lag in der Szenerie — dem grotesken Stück würde keine Aufführung widerfahren. Das Parkett war leer. Lediglich hinter dem Vorhang stapelten sich die Statisten, erstickten beinahe in diesem fensterlosen Raum, dem mit jedem weiteren, flachen Atemzug der Anwesenden der Sauerstoff entwich. Und Ivan Ras? Den Leuten um ihn herum war es egal, auch wenn sie ihm auf eine sonderbare Weise nicht egal waren — so dachte er zumindest. Dieser Widerspruch zerriss ihn innerlich so sehr, dass er garnicht umhin kam, tagein tagaus zu denken, er sei ein Stück Aas geworden, das nur in einem abgesteckten Rahmen leben und funktionieren durfte. Diesen Rahmen gab stets der Antrag vor. Nur ihm hatte die gesamte Aufmerksamkeit des jeweiligen Antragstellers zu gelten: die jährlich abzugebende Papierologie, die Geburtsurkunden und Ausweise, der Pass und das Foto, auf dem meist ein mit weit aufgerissenen Augen erschreckt dreinblickendes Antlitz prangte, die beglaubigten Urkunden und Übersetzungen derselben, Schulzeugnisse, Bestätigungen, Strafregister- und Kontoauszüge, Empfehlungsschreiben und gefälschte Bürgschaften — sie alle waren von dieser Entfernung aus betrachtet nur das Beiwerk des guten und gerechten Lebens, von dem die meisten hier Wartenden nachts träumten. Der Trost — er war nichts, was Ivan Ras einfach so auf den Straßen dieser ihm nach wie vor zutiefst fremden Stadt hätte finden können, geschweige denn in den Gesichtern und Geschichten jener Menschen, die, seinem Gesicht und seiner Geschichte gleich, sich aufgemacht hatten, anderswo willkommen geheißen zu werden. Niemand hatte sie willkommen geheißen! Sie waren der gesichtslose Trupp, der jedes Jahr von Neuem den Antrag brauchte, um den Herrschaften die Büros und Toiletten zu putzen, ihnen das Essen zu servieren, ihre Häuser zu bauen, Waren über den Laser zu ziehen, schweres Gerät zu fahren, oder ihren Müttern im Altenheim den Arsch abzuwischen. Trost fand Ras in der Erinnerung an den redlichen Herbst seiner Heimatstadt und zwischen den Wänden seines unweit vom Magistrat gelegenen Wohnhauses: Trost in den Pissspuren am Eingangstor, über die der Hauswart immerzu verzweifelt fluchte, wobei Ivan Ras niemals genau wusste, ob der Geruch der abgestandenen Pisse oder die Flüche ihn zufriedener stimmten; Trost in den unzähligen, leergesoffenen Energydrink-Dosen, die täglich die Fenstersimse des Stiegenhauses schmückten, und von denen keiner genau wusste, woher sie stammten; Trost in der Dichte an im Papiermüll verschlossen weggeworfenen Gerichtsvorladungen; Trost im plötzlich aufheulenden Gesang seiner Nachbarin Alma, die am Abend immer gerne mit ihrer Tochter bei offenem Fenster religiöse nigerianische Lieder sang, während Ivan Ras, als würde er lauern, vor dem offenen Fenster seiner Küche rauchend auf einem Hocker saß und beinahe andächtig den singenden Fragen und Antworten, die die beiden einander liebevoll zuwarfen, lauschte; Trost in der Tatsache, mit niemandem im Haus Deutsch reden zu müssen, mit seinem wunderschönen, nutzlosen Deutsch, das er nurmehr wie einen geheimen Garten pflegte, ja sich mittlerweile sogar verstellte, wenn ihm jemand zufällig auf der Straße auf Deutsch eine Frage stellte. Ivan Ras war ein Kriechtier, Ivan Ras schaute auf die Uhr — nein!, er schaute auf die Anzeige über ihm, die gerade die Nummer G-079 aufrief, in Zimmer 12 zu kommen. Wie von einem schlechten Traum gestochen, war er zu den grauen Zimmertüren vorgeprescht, allem Trost zuwider. Die Angst, endgültig seine Gelegenheit verpasst zu haben, packte ihn unsanft am Kragen. Krampfhaft umschlossen seine Finger das nachzureichende Papiergewirr in seiner Rechten — derweil seine Linke langsam den Zettel mit der Nummer G-074 zu einem feuchten Bällchen formte. Und stechend auch der Schreck, den er bekam, als er im Augenwinkel die vielen auf ihn gerichteten Glupscher bemerkte, dunkel und abgründig. Er drehte sich um und erblickte eine starrhalsige Masse, wie sie gebannt auf diesen einen Punkt ihre gesamte Aufmerksamkeit richtete — als hätte der Vorhang sich endlich gelichtet, mit Ras höchstpersönlich als traurigem Helden dieses Stückes ohne Anfang und ohne Ende. Doch er hatte sich getäuscht: Nicht auf ihn waren die wilden, erwartungsvollen Blicke gerichtet, sondern auf die alle halben Zeiten fiepende Anzeige, unter der Ras nun wie einzementiert stand und sich allenfalls wunderte. Diese unselige Anzeige, die ihn einfach übersprungen… und die Zeit, die ihn einfach vergessen… und das schwarze Loch, aus dem er nun langsam hervorkroch: Hatte er es nicht höchstpersönlich gegraben, die Passform im Vorhinein abgesteckt? Was hatte er mit alldem hier zu tun — und all das mit ihm? War er wieder im Gefängnis gelandet? Und überhaupt Wieso verbeugte Ivan Ras sich nicht? Ein Schläfenzucken weckte ihn aus seiner Starre, diesem beinahe trotzigen Eigenbrötlertum. Er schaute auf die Uhr — und als kennte er den landläufigen numerischen Aberglauben nicht, ging er durch die Tür mit der Nummer 13, ohne dazu aufgefordert worden zu sein oder etwa angeklopft zu haben. Kurz vermeinte er Stimmen des Protestes hinter sich aufheulen zu hören, schon fiel die Tür unsanft hinter ihm zu.

***** Im Zimmer roch es nach Moder. Die Feuchtigkeit kam von den vielen Pflanzen, die wie ein grüner Korridor den Weg von der Tür bis zum Tisch absteckten, hinter dem eine Frau mittleren Alters saß, mit einer zu beiden Seiten spitz nach oben ausscherenden, extravaganten Plastikbrille auf der Nase und absurd langen, buntlackierten Fingernägeln. Ivan Ras runzelte die Stirn und flüsterte ein verhaltenes Guten Tag in den Raum hinein, das sich sogleich in den dunkelsten Ecken des Privatdschungels verlor. Nun näherte er sich vorsichtig dem Tisch. Von den Blättern und Zweigen um ihn herum hingen an Schnüren gebundene Fotos und Dekoschmuck, falsche Plüsch- oder Plastiktiere versteckten sich in manch einer Nische: Spinne, Katze, Hund, Elefant, Einhorn, Tiger — sogar eine Schlange vermeinte er hinterm dichten Astwerk zu erkennen. Er traute seinen Augen kaum. Dieses Büro kannte er nicht, obgleich er glaubte, sich erinnern zu können, durch die Tür mit der Nummer 13 mal vor Jahren getreten zu sein — vielleicht war es sogar bei seinem ersten Antrag gewesen? Vielleicht aber gaukelte ihm der abflauende Rausch, der ihn nun wie ein Schwein schwitzen ließ, die vermeintliche Erinnerung nur vor. Vielleicht, so hoffte er insgeheim, war alles nur ein halbgarer Albtraum. Ohne auch nur den Hauch einer Regung erkennen zu lassen, fragte die Frau, als Ivan Ras aus dem grünen Tunnel trat, mit einem langgezogenen Jaaa nach den Belangen des Antragstellers. Ras räusperte sich und antwortete — sein schönes und für das Ohr ausgesprochen wohltönendes Deutsch aus den Untiefen seines Cortex hervorkramend —, indem er ein Kompliment für die beeindruckende Pflanzenfülle aussprach, woraufhin die Frau ihn fragte, was er hier wolle, woraufhin Ras antwortete, er wolle seinen Antrag abgeben, woraufhin die Frau ihn darauf aufmerksam machte, dass deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger vom Antrag befreit seien, woraufhin Ras erwiderte, er sei kein deutscher Staatsbürger, woraufhin die Frau ihren Kopf hob und ihn misstrauisch musterte, woraufhin Ras debil grinste, woraufhin sich folgendes Gespräch ergab: „Ja, entschuldigen Sie, ich meinte nur…“ „Nein, kein Problem, ich kriege das oft…“ „Name!“ „Ras…“ „Ras?“ „Ja, Ras.“ „Nein, Ras und weiter.“ „Ach ja, Ivan, Ras Ivan.“ „… Sie müssen Papiere nachreichen, Herr Ras: Lastschriften der letzten sechs Monate, Strafregisterauszug, Bestätigung des Arbeitgebers über Ihre Arbeitszeiten sowie eine weitere Bestätigung über die Sozialstunden bezüglich Ihrer Verurteilung letztes Jahr, weiters eine Auskunft über Ihre Kreditwürdigkeit, das Addendum zu Ihrem Mietvertrag… ja, hat Ihnen das niemand vorher gesagt, Herr Ras? „Nein, ich dachte, meine Daten seien schon vorhanden gewesen — noch von meinem letztjährigen Antrag. Dann bekam ich letzte Woche diesen Brief von Ihnen…“ „Mit einer rechtskräftigen Verurteilung ändern sich die Regeln, Herr Ras!“ „Ja, das war mir nicht klar.“ „Geben sie mal die Papiere her… hier fehlt ja die Bestätigung der Sozialstunden!“ „Ich weiß, aber der Verein, für den ich letztes Jahr gearbeitet habe, hat sich aufgelöst. Ich weiß nicht, was ich diesbezüglich jetzt machen soll.“ „Da müssen Sie zum Gericht und sich eine Substitutserklärung ausstellen lassen, welcher nach sie diese Stunden auch tatsächlich absolviert haben, das bedeutet wiederum eine Prüfung vonseiten der zuständigen Abteilung. Und wenn sie jetzt sagen, der Verein wurde aufgelöst, so kann das sehr lange dauern.“ „Ja…“ „Nein, Sie verstehen nicht… Sie haben keine Zeit, wir bräuchten die Substitutserklärung schon vorgestern! Ihr Antrag wurde ja schließlich schon vor… vor mehr als zwei Monaten abgegeben. Ihr Aufenthalt in Wien ist auf Pump, Herr Ras. Verstehen Sie das, nein?“ „Ja, doch, ich verstehe das, und was soll ich jetzt tun?!“ „Was sollen Sie tun! Was soll er tun? Eine Nummer sollen Sie ziehen und beten, das sollen Sie tun! Herr Ras, Sie kennen doch die Situation, in der Sie gerade stecken, am besten, nein? „Ja!“ „Sie müssen verstehen, dass Sie und Ihresgleichen nur mehr wenige bis gar keine Freunde hier in Wien haben. Ich meine, schauen Sie sich doch den Wartesaal an! In einem Stall geht es ordentlicher zu, wir haben die Kapazitäten einfach nicht mehr, Herr Ras! Wo sollen die ganzen Leute hin? Das geht sich von vorn bis hinten nicht mehr aus! Wir werden auch von allen Seiten gekürzt, zurechtgestutzt, dezimiert, beschnitten, ausgetauscht — gerade letzte Woche wieder… und wenn ich mir Ihre Akte so anschaue, würde ich Ihnen dringend raten, über eine Rückkehr in Ihre Heimatstadt nachzudenken, als auf eine Veränderung Ihres Status’ zu hoffen: zwei abgebrochene Studiengänge, die Sie, so vermute ich jetzt mal, rein alibimäßig für den Antrag eingeschrieben haben, dann die Sache mit Frau Dunja M… M… beileibe, ich kann diesen Nachnamen nicht aussprechen…“ „M…“ „… dann Ihr sogenannter Job, und von Ihrer Wohnsituation ganz zu schweigen… ist das das Addendum zu Ihrem Mietvertrag?“ „Ja.“ „Nein, das ist ein Witz! Pfusch ist das! Wie soll ich das vor meinem Vorgesetzten verantworten? Und wie er vor seinem?“ „Ich bitte Sie, geben Sie mir eine Woche… nur diese eine Woche, ich arbeite hart.“ „Arbeiten können Sie, soviel Sie wollen, Herr Ras, was Sie brauchen, sind Freunde, sonst sehe ich keine andere Möglichkeit, Ihnen zu helfen.“ „Ich bitte Sie! Bitte, nur eine Woche, und ich werde auch die restlichen Papiere beisammen haben. Diese… diese… diese…“ „Diese, diese was? Schauen Sie doch mal auf die Uhr, Herr Ras. Sie haben keine Zeit!“ „Und was ist mit meinem Deutsch, ist das nichts wert? Schließlich habe ich mir jahrelang…“ „Ihr Deutsch?! Was soll mit Ihrem Deutsch sein? Schauen Sie doch mal aus dem Fenster, Herr Ras. Der Herbst ist da!“ „Bitte, lassen Sie mich nicht betteln, Frau…“ „… mir sind die Hände gebunden, ich meine, gehen Sie bitte hinaus und schauen Sie sich doch mal um: Araber, Serben, Bosnier, Algerier, Syrer, Afghanen, Nigerianer, Tschetschenen, Türken, tagtäglich tausend Gesichter dem Ihren gleich, und tausend Geschichten ebenfalls. Ein wahrlich groteskes Theater, was Sie hier wieder aufführen! Wo soll das ein Ende haben Ich kann Sie nicht alle vertrösten!“ „Das verlange ich auch nicht von Ihnen. Ich brauche keinen Trost, von niemandem! Nur ein wenig Zeit, ich bitte Sie. Sie meinten vorhin, ich brauche einen Freund. Seien Sie bitte meine Freundin und helfen Sie mir!“ „Herr Ras… Sie… Ich… geben Sie mir Ihre Ziehnummer, und ich behalte diesen Stapel mal bei mir, in Ordnung?“ „Entschuldigen Sie bitte, ich habe den Zettel…“ „Das macht nichts, die sind so dünn und zerfleddern leicht. Ich sage Ihnen jetzt was, ich werde… aber… was… Herr Ras?“ „Ja…“ „Herr Ras, hier steht, sie haben die Nummer G-074!?“ „Ja…“ „Sagen Sie, wollen Sie mich hier für dumm verkaufen? Schau ich etwa deppert aus?“ „Nein, ich…“ „Was nein, Herr Ras, was nein? Ja, nein, ja, nein! Machen Sie Ihr Maul auf, Mensch, und beantworten Sie meine Frage: Schau ich etwa deppert für Sie aus?“ „Nein!“ „Ja, und warum kommen Sie dann in mein Büro, wenn Sie doch ganz genau wissen, dass ich Sie nicht aufgerufen habe? Auf meinem Computer steht eindeutig G-082. Also?“ „Ich…“ „Sie, Herr Ras, haben sich vorgedrängelt, so schauts aus! Und dann haben Sie noch die Chuzpe, Hilfe von mir zu wollen? Haben Sie sich vielleicht in irgendeinem Augenblick gefragt, wer sich hinter der Nummer G-082 verbirgt — wem Sie da den Platz und die Zeit gestohlen haben? „Ich…“ „Nein, eben nicht Sie! Wissen Sie was, Sie schleichen sich jetzt aus meinem Büro und hocken sich nieder, bis Sie jemand aufruft. Sie denken, Sie können sich wohl alles erlauben, was? Aber was sag ich, ich sehe ja Ihre Akte vor mir! Und es scheint sich auch der Verdacht zu bestätigen, dass unser System für Ihresgleichen scheinbar nichts Wert ist, sonst würden Sie nicht zum wiederholten Male gehörig darauf scheißen!“ „Ich bitte Sie…“ „GUSCH jetzt! Sie nehmen jetzt Ihre Papiere und gehen hinaus, oder wollen Sie, dass ich den Sicherheitsdienst rufe? So was habe ich ja noch nie… was glauben Sie denn, wer Sie sind in den Augen dieser Behörde? Seien Sie froh, dass ich überhaupt Gnade walten lasse. Wenn ich will, sitzen sie schon morgen im Flieger und schauen sich den Prater von oben an! Sie denken, nur weil Sie sich dieses falsche, gekünstelte Bundesdeutsch antrainiert haben, dass Sie besser sind als die Leute, die da draußen Ihre Zeit ehrlich absitzen? Eine Freundin wollen Sie in mir? Ich drehe Ihnen den Hals um, Herr Ras…“ **** Er erinnerte sich nur mehr vage daran, wie er nach draußen gelangt war: Die 312 Stiegen, die er in einem Anfall von Neugier heute morgen, als er das Magistratsgebäude betrat, gezählt hatte, musste er runtergebrettert sein, so viel war ihm bewusst. Die Verwunderung, beim Runtergehen und erneuten Zählen auf 311 gekommen zu sein, hinterließ bei Ivan Ras ein klammes Gefühl, als hätte er etwas verloren — als wäre er selbst es, der verloren gegangen war. Vielleicht aber war es auch das Zeitfenster gewesen, das ihm jetzt zu schaffen machte, das elendige Zeitfenster, in dem er sich umgedreht und das Büro mit der Nummer 13 verlassen hatte, die Tür nur halbherzig in Schloss fallen gelassen, die Falle, die wiederum das Schloß nicht griff, sodass die Tür angelehnt blieb, das Zeitfenster also, in dem sich dieser sonderbare Tag mit seiner inneren Aufruhr überschlagen hatte — es waren keine zwei Minuten gewesen, und genau diese hatte Ivan Ras für seine kleine persönliche Flucht genutzt: vorbei an den müden und ausgezehrten, den leeren und grantigen, den erwartungsvoll wartenden und aufgebrachten, den serbischen und syrischen und bosnischen und pakistanischen und afghanischen und türkischen und greisen und jungen und fertigen Gesichtern, kopfüber durch Warteraum und Gedränge, seine nachzureichenden Papiere im Anschlag wie der Westernheld, der er niemals sein wollte; im Vorbeigehen noch Fetzen eines türkischen Liedes, das eine neben dem Ausgang sitzende Frau für ihren im Arm dösenden Säugling sang, aufschnappend — und das Türkische, das nun, nach sieben Jahren und sechs Anträgen, fremder und ferner klang als alles zuvor Gehörte; aus dem Warteraum hinaus auf den Flur, hinter dessen schweren, krankenhausgrünen Türen weitere Flure und Türen warteten — und Menschen und Beamte und Beamte und Menschen; im Foyer dann ein flüchtiger Blick hinüber zu den dick-verglasten Schaltern, vor denen Ras heute morgen schon eine Stunde mit der Anmeldung seines Antrags verbracht hatte; und schließlich die Drehtür, hinter der weniger auf Ivan Ras lauerte als der farblose Wiener Herbst. Und ob Ras die Zigarette, die er nun vor dem Eingang des Magistrats beinahe gierig rauchte, schon im Foyer angezündet hatte und somit tatsächlich den Verdacht erhärtete, mit Systemen im Allgemeinen und diesem System im Besonderen nicht viel am Hut zu haben — wer möchte denn so etwas bitte wissen? Er stand vor der gläsernen Karusselltür wie ein hinausgeworfenes Möbel. Das Kommen und Gehen von Antragstellern diktierte derweil den Rhythmus, in dem die Tür sich drehte und ruhte — das Summen des Drehmechanismus im Innern, das Schnalzen und Schleifen der Sicherheitsbürste —, wiewohl die Zeit still stand für Ivan Ras — die Zeit auf dem Spiel… Vor seinen Füßen tanzte ein von Kaffeeflecken beschlagener Plastikbecher im Wind. Auf der anderen Straßenseite öffnete sich die Allee, die zu seinem Wohnhaus führte. Und würden sie diesmal seinen Antrag endgültig abweisen, was würde dann aus ihm? Und was aus dem Neuanfang, für den er die vielen Jahre geschuftet hatte? Er schaute auf die Uhr. Als Ivan Ras noch ein Kind war — hier und jetzt kroch plötzlich diese Erinnerung aus den Untiefen seiner Geschichte empor —, als er noch ein Kind war, hatte er ein besonderes Spiel ersonnen, ganz ohne Regeln, ohne einen Gewinner oder einen Verlierer, ein Spiel, das zu spielen lediglich den heißen Sommertagen vorbehalten war, wenn die Eltern mit ihm und seiner kleinen Schwester ans Meer gefahren waren. Dem Gebaren nach ganz Strauß hätte er sein von Pickeln übersätes Gesicht in den Sand gesteckt und beobachtet, wie die hin-und-her-schwappenden Wellen nach und nach den Gesichtsabdruck im Sand fraßen, bis nurmehr glatter grauer Strand übrigblieb und das Spiel von vorne losging. In jenen Tagen wäre ihm die Schwester nicht von der Seite gewichen. Sie beobachtete Ivan Ras in einer Mischung aus Neugier und Bewunderung, teils still und bedächtig, teils in nachahmender Pose, so die Aufmerksamkeit des größeren Bruders suchend, während dieser, mit Wut und Neid im Bauch, die kleine Schwester zwang, den nassen Sand zu fressen. Eines Tages waren die Pickel aus Ivan Ras´ Gesicht verschwunden und an ihre Stelle traten tiefe und wilde Narben in sein Gesicht — verliehen ihm fortan den Charme eine umgepflügten Ackers. Und tief und wild war auch die Verunsicherung, die seit jenen unbeschwerteren Tagen Ivan Ras schrittgenau verfolgte, ja bis zur 311. Stiege des Wiener Magistrats selbst, wo er, ganz klein und duselig wie ein Kitz, nun ausgerechnet an Dunja denken musste. Dunja, mit der er sonst in den Wartesälen dieser trostlosen Stadt verharrte — Dunja, die Gerechte unter den Antragstellern. Dunja aus dem Viertel, die mit seiner kleinen Schwester in die Klasse gegangen war. Dunja, der die Narben immer schon egal gewesen waren, genauso wie die Tiefe und die Wildheit seiner Verunsicherung, dieses Undefinierte seiner Person, die Duseligkeit, die Wut… Dunja, die ihn nach dem Tod der Schwester aufhob, sachte auseinander baute und ihn wieder neu zusammensetzte. Die ihm im Augenblick größter Verlorenheit bekräftigte, den Neuanfang in Wien zu wagen, mit ihr an seiner Seite — mit ihm an ihrer. Mit der er gemeinsam nächtelang Deutsch lernte, ihres weicher als das seine, eines schöner wie das andere. Dunja, die im entscheidenden Augenblick die Familie sein wollte, die er tags zuvor verlor. Für die er die Anträge der letzten Jahre über sich hatte ergehen lassen, und sie die ganzen Anträge über sich für ihn. Dunja am Bau. Dunja hinter der Supermarktkassa. Dunja als Blumenverkäuferin, als Floristin, als Chefin vom Dienst, als Leiterin der Filiale. Dunja, die sich zurechtgefunden hatte, die den Antrag nicht mehr brauchte. Dunja, deren Blick auf Ivan Ras mit jedem fortschreitenden Jahr nüchterner wurde. Grübelnde Dunja, abwägende Dunja, auf Gelegenheiten lauernde… Dunja, deren Nachnamen niemand in Wien aussprechen konnte. Dunja mit dem Stroh als Haar, den Hyazinthenaugen, dem behaarten Muttermal am Kinn. Dunja mit den Seefahrerhänden. Dunja mit dem ausgeschlagenen Zahn und der Stütze ums Genick. Dunja im Krankenhaus. Dunja mit dem Loch im Bauch. Ivan Ras hatte nur mehr Verachtung für sich übrig, nachdem er den Rest an Selbstmitleid über die ganze Welt vergossen hatte. Er konnte sich sein Selbstmitleid in den Arsch stecken, dachte er, ganz bei sich: Steck dir dein Selbstmitleid in den Arsch, Ivane! Und wie im Fiebertraum wandelnd, trugen ihn nun seine Füße nicht etwa weiter hinaus, über Straße, Ampel und Kreuzung, durch die Allee, deren Lindenbäume sich gerade anschickten, die letzten Blätter der Jahres zu lassen. Sie trugen ihn auch nicht bis an den Fuß des schweren gusseisernen Tores, das, zwar Tag und Nacht offen, aus Ivan Ras’ vermeintlichem Zuhause seinen ganz persönlichen Kerker machte — nein, sie kehrten um, setzten die Drehtür in Bewegung, tänzelten um Hindernisse herum, stiegen Stufen hinauf, zählten genau 312 und betraten denselben Wartesaal, den sie zuvor in großer Hast verlassen hatten. Ivan Ras’ Füße gehorchten ihm nicht mehr — sie hatten auch nichts mehr, dem sie gehorchen konnten. Ivan Ras war wieder nüchtern. Ivan Ras war leer. In der Zwischenzeit hatte sich das Gedränge im Wartesaal gelichtet. Vereinzelt lehnten Antragssteller an den Säulen oder zählten gesenkten Blickes und im schlendernden, erstaunlich ruhigen Hin-und-Her die eigenen Schritte. Die Kinder waren verschwunden und mit ihnen auch die neugierigen Gesichter, die, hätte Ivan Ras seinem Mund vielleicht ein Lächeln oder zumindest ein Schmunzeln abgewonnen, sich sicherlich nach ihm umgedreht hätten, ihm sogar durch ein leichtes Zunicken zu verstehen gegeben, er sei nicht allein und die Welt gut so, wie sie vor ihm dastand. Doch niemand kümmerte sich um den schwarzbelockten Hühnen mit den Narben im Gesicht, dessen Arbeitsklamotten von ihm hingen wie zerfaserte Lumpen, mehr noch: kreuzte ein Blick tatsächlich den von Ivan Ras, erkannte dieser in jenem nur dieselbe Last der unsichtbaren Ketten, die so ein Antrag nach sich zog. Er schaute auf die Uhr. Der Sessel, auf dem der hagere Mann mit der Nummer G-024 heute Mittag, als Ivan Ras noch ein ganzer Mensch gewesen war, gesessen hatte, war leer. Stumpf und steif wie Besen schleifte er sich zu seinem Sessel und setzte sich hin, während beinahe zeitgleich mit dem penetranten, doch wohlbekannten Ton der über ihn fiependen Anzeige, die gerade die Nummer A-133 aufrief, in Zimmer 10 zu kommen, ein klammes Gefühl erneut den jämmerlichen Helden ergriff. Er wusste nicht mehr, was er hier tat, es war ihm auch sonderlich egal geworden. Und hätte ihn diese höllische Angst nicht plötzlich aus dem Hinterhalt gepackt, wäre er wahrscheinlich aufgestanden und hätte mit der Genugtuung eines zum Tode Verurteilten vor Irrsinn getanzt. So aber drehte und wand er sich nach allen Seiten wie ein nervöses Kind, im Wissen, dass sein Dorgenvorrat aufgebraucht war. Dunja, so dachte er, war bis dahin schon über alle Berge gewesen, wie die Einheimischen hier zu sagen pflegten. Derweil — um im Konjunktiv zu bleiben — hätte ich Ivan Ras´ Geschichte wahrscheinlich niemals in solch schimmernder Herbstpracht erzählen können, hätte dieser sich in einem bestimmten Augenblick nicht zu mir gedreht und ich seinem Antlitz mein eigenes erkannt, sein Antlitz in allen anderen, meine Geschichte die seinige, die Geschichte aller auf den Antrag Wartenden, deren Nummernabfolge uns bis zuallerletzt unbekannt bleibt. Nur einen Namen brauchte ich in dem Moment für ihn, der Rest, wie etwa die Heimatstadt, in der er aufgewachsen war, die Drogen, die er zu sich nahm oder etwa das Verbrechen, das er begangen hätte haben können, waren mir persönlich eingeschrieben: Als sich Ivan Ras also in jenem ganz bestimmten Augenblick umdrehte und mir in die Augen sah, zögerte er einen Atemzug lang, bervor er mich mit stummer Verzweiflung in der Miene um Hilfe bat. Ich wimmelte ihn mit in Abwehrhaltung gebrachten Händen ab. Nur ein leises Tut mir leid entfloh noch meinen Lippen, schon drehte er sich um und bat eine mit Aktenordnern beladene Frau im Vorbeigehen erneut um Hilfe — sie aber scherte sich einen Dreck um diesen Rüpel, diesen hässlichen Klotz, der aussah wie die Bösewichte aus den Westernfilmen, die sie so sehr verabscheute, diesen pferdelosen Rowdy, der sie da gerade verzweifelt anfuhr und dessen Geschichte sie sogleich durschaut hatte, weil alle Geschichten, die auf ihren Tisch landeten, dachte sie bestimmt, auf die eine oder die andere Art und Weise einander ähnelten. Unterdessen war ihr Name Annabelle Keuch gewesen, und sie hatte bereits eine Zwölf-Stunden-Schicht hinter sich gebracht. Nur einen kurzen, abweisenden Blick warf sie Ivan Ras zu, als dieser sie um Hilfe bat. Seine ganze jämmerliche Art widerte sie an.