Decamerone – Michal Hvorecky

© Fotograf

Intimabstand. Neun Jahre nach Corona. Eine Dystopie.

Von Michal Hvorecky

Übersetzung: Mirko Kraetsch, 2020
Erstveröffentlichung: Literarische Welt, 21.03.2020

Bleiben Sie zu Hause, ich wiederhole: Bleiben Sie zu Hause, und halten Sie Intimabstand. Zuerst anderthalb Meter, dann zwei, schließlich drei und mehr. Fast nichts anderes hab ich über Jahre gehört. Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten.
Ich zog mir die orangerote Schutzbekleidung an und ging hinaus. Bei jeder Bewegung gab ich ein weiches Knistern von mir. Das Material versprach wirkungsvollen Schutz gegen eine breitgefächerte Skala von Viren, die per Ultraschall verschweißten Nähte stellten eine undurchdringliche Barriere dar. Übers Gesicht zog ich eine Silikonmaske. Wirklich perfekt gemacht für unseren Echt-Tinder.
Das letzte Mal live gesehen hatten wir uns vor so langer Zeit, dass es mir vorkam wie in einem anderen Leben. Wir hatten uns noch in einer richtigen Schule kennengelernt, die gegenseitige Verzauberung hat seitdem angehalten. Aus den vierzehntägigen Virusferien waren unendliche geworden. In der Schulbank haben wir uns nie wiedergetroffen. Unsere Lehrerin sahen wir nur auf dem Bildschirm. Unterricht, Arbeitsgemeinschaften, Hobbys, Gottesdienste – alles von zu Hause aus, online, digital, am Monitor lernte ich Geometrie, Geografie und Englisch und wurde in die Geheimnisse der Virologie eingeweiht, des neuen, für alle obligatorischen Schulfachs.
Nähergekommen ist man sich über das Display, es wurde baidupiert, lenovoziert, huaweiliert, xiaominiert, und diejenigen, die sich’s leisten konnten, haben auch elonmuskiert. Während der Pandemie hatten wir zwei monatelang den Kontakt zueinander verloren, es gab keinen Strom; danach haben wir die Verbindung mühselig wieder aufgebaut und sind lange unzertrennlich gewesen. Wir sind erwachsen geworden, haben oft gechattet, uns gegenseitig unsere Lieblings-E‑Books in Fortsetzung vorgelesen, Spiele gespielt, alte Serien angeschaut, uns bis auf Blut gestritten und wieder vertragen. Neulich hab ich für ihn mein T-Shirt ausgezogen, er wollte mich so gern endlich nackt sehen, flehentlich gebettelt hat er darum, also hab ich ihm den Wunsch erfüllt, unter der Voraussetzung, dass er angezogen bleibt. Er hat Wort gehalten. Und ist röter angelaufen als ich. Meine Liebe zu ihm wurde immer stärker.
Die Beziehung half mir auch, mit dem Tod meiner Eltern klarzukommen. Die beiden hatten sich nach der entsetzlichen dritten Virusmutation einer Büßersekte angeschlossen. Die Epidemie betrachteten sie als Strafe Gottes, und jeden Moment erwarteten sie die zweite Wiederkunft des Messias. Sie surften von einem sozialen Netzwerk zum anderen, unterzogen sich qualvollen Ritualen. Dann brachen sie zu einer Prozession auf, die dreiunddreißig Tage dauern sollte, doch nach ein paar Stunden raffte es sie vor einer Kirche dahin. Die Särge schreinerte man aus weichem Holz, damit die Leichname so schnell wie möglich verwesten; damals wurde noch individuell beigesetzt, später ausschließlich in Massengräbern. Die Friedhöfe reichten bis zum Horizont. Über die schnurgerade aufgereihten Gräber ohne Blumen fegte der Wind hinweg. Orte der Gleichheit, wo alles perfekt auf Linie gebracht war. Bei ihrem Anblick fiel mein Entschluss, Ärztin zu werden.
Ihn hatten Mutter und Vater verlassen, kaum dass er sich infiziert hatte. Die Zahl der Wuhan-Waisen nahm immer mehr zu. Die finsterste Stunde in der Geschichte unseres Landes ist angebrochen, verkündete der junge Regierungschef, unmittelbar bevor er während des Livestreams erstickte.
Uns hat verbunden, dass wir beide allein zurückgeblieben waren. Mit ihm habe ich mich, auch in meinen vier Wänden gefangen, nicht einsam gefühlt, manchmal haben wir uns zumindest am Touchscreen berührt und meine Fingerkuppen haben gekribbelt.
Ich lernte neue Wörter wie Mortalität oder Letalität. Es wurden widersprüchliche Ratschläge gegeben: Wasser trinken. Nein, Wein. Nein, Weinbrand. Am Morgen einen Löffel Essig, am Abend zwei. Völlern. Fasten. Sich ins Warme begeben, nein, zuerst in die Kälte.
Eine Zeitlang kreisten noch Geisterflieger am Himmel, damit die Fluglinien ihre wertvollen Slots nicht einbüßten, aber nach einer Weile waren sie alle verflogen und der Himmel war strahlend rein. Man schätzte, dass ein Drittel der Menschen ums Leben gekommen war. Unvorsichtige waren von einem schlimmen Fieber gepackt worden, einige beim Schlafen, andere im Gehen. Die Straßen leerten sich, nur hin und wieder kamen autonome Fahrzeuge unter Sirenengeheul angerollt und verteilten haltbare Lebensmittel.
Gepanschte Virostatika erzielten Goldpreise. Für den Aufenthalt auf einer Intensivstation waren Patienten bereit, ihre Eigentumswohnung abzutreten. Um an Atemschutzmasken heranzukommen, verübten Menschen schreckliche Verbrechen und Dealer betrieben regen Missbrauch.
Man musste absolut isoliert und rein bleiben, um zu überleben. Sicher auch deswegen fanden junge Leute alles Dreckige so faszinierend. Ansonsten hätte die ersten E‑Wahlen nicht dieser unberechenbare Fanatiker gewonnen, der den Virus als Erfindung der Juden bezeichnete, und man hätte Infizierte nicht in Roma-Siedlungen ausquartiert, wo es angeblich Fledermaussuppe zu essen gab.
Wir zwei haben uns immer wieder gesagt, dass wir trotz alledem durchhalten müssen, nicht aufgeben dürfen. Nach neun Jahren schneite es das erste Mal wieder. Allmählich kehrten die vier Jahreszeiten zurück. Die Luftqualität erreichte Werte wie vor hundert Jahren. Die Durchschnittstemperatur sank um drei Grad.
Die Regierung ignorierte weiterhin die Rechte von infizierten Senioren, die nicht im Traum erwarten konnten, dass ihre Forderungen erfüllt würden. Niemand über siebzig wurde von den Robotern mehr in Krankenwagen mitgenommen. In Lagern an der Grenze saßen auch Unmengen von Gesundheitsflüchtlingen in der Falle.
Alle beide forschten wir in medizinischen Onlinegruppen, die intensiv an einer Verbesserung des Impfstoffs arbeiteten. Bis zur völligen Erschöpfung betrachteten wir unter Mikroskopen im Netz sich ständig verändernde runde, ovale und längliche Viren mit ihrer spiralenförmigen Symmetrie und den gruseligen keulenförmigen Vorsprüngen.
Die Überlebenden wurden aktiv und überlegten, wie es mit der Welt, die langsam wieder gesund wurde, weitergehen sollte. Wir wussten, dass wir nicht so weiterleben konnten wie bisher, aber die Vorstellungen gingen weit auseinander, widersprachen sich sogar. Wir halfen dabei, talentierte Geister, wissenschaftliche Teams, Quantencomputer und künstliche Intelligenz miteinander zu verknüpfen. Es freute uns, dass nach dem Kollaps der Kreativwirtschaft die Kulturszene wieder erwachte. Wir nannten es zusammen ins Theater gehen, wenn wir uns an unsere Tablets setzten und mit angehaltenem Atem Schauspielern zusahen, die ein Stück jeder bei sich zu Hause einstudiert hatten und sich nun auf einer virtuellen Bühne trafen. Wir nahmen im Netz an politischen Demonstrationen teil, an Ausstellungen und Konzerten, wir spazierten mit dem Finger auf dem Display durch die Galerien der Welt und zoomten in die Bilder alter und neuer Meister hinein. Wir bestaunten eingescannte Sehenswürdigkeiten und 3-D-animierte historische Stadtviertel. Wir diskutierten und polemisierten bis zum Abwinken, dachten laut nach, schrieben lange Texte und wurden immer wieder von Zweifeln befallen. Der fieberhafte Eifer schweißte uns zwei noch fester aneinander, wir schalteten unsere Verbindung schon gar nicht mehr aus und blieben vierundzwanzig Stunden in Kontakt, ich schlief zu seiner Stimme ein und wachte von einem Lied auf, das er bei sich laufen hatte. Unsere Nähe hatte die Entfernung überwunden.
Dennoch war ich ganz benommen von der Vorstellung, ihn wieder persönlich zu treffen. Ich kam an ausgeraubten Geschäften untergegangener Marken vorbei. Durch den Atemfilter drang der scharfe Geruch der Tiefendesinfektion, die überall um mich herum versprüht worden war. Üppige Vegetation hatte Freiflächen und Gebäude überwuchert. Hin und wieder huschten sporadisch Ärzte mit Vogelmasken vorm Gesicht vorbei. An einer Mauer der Stadtbefestigung studierte ich eine Weile die Vermisstenlisten und die Danksagungen an aufopferungsvolle Ärzte und Krankenschwestern. Dann musste ich weiter, wir hatten ausgemacht, uns an der Schule zu treffen, so wie früher.
Aus dem Dach des ramponierten Baus wuchsen schon Bäume, durch die offene Eingangstür kam ein Fuchs, auf dem Schornstein nisteten Störche und fütterten ihre Jungen. Ich hatte lange überlegt, was ich ihm sagen sollte, wenn es so weit wäre. Noch nie war ich beim Warten so ungeduldig und unsicher gewesen, mit pochendem Herzen und zugeschnürter Kehle.
Er kam auch im Schutzanzug, einem gelben, vorm Gesicht der allseits bekannte dicke Mundschutz aus Nanofasern, für den früher auf dem Schwarzmarkt astronomische Summen gezahlt worden waren. Wir schauten uns durch die Sehschlitze an, überwanden vorsichtig unseren Intimabstand und gaben ein weiches Knistern von uns. Kein einziges Wort fiel. Seltsam, so dicht neben einem anderen Menschen zu stehen. Als wir uns so anschauten, brachen wir auf einmal in ein seltsames Gelächter aus, wie es nun einmal durch Schutzmasken hindurch klingt. Dann verflochten sich unsere Finger, die Hände pressten sich aneinander. Ich hatte schon vergessen, wie sich das anfühlt. Als ob ich Fieber hätte. In den Ohren pochte der Pulsschlag, auf die Stirn traten Schweißtropfen und mir blieb dermaßen die Luft weg, dass ich ein steifes Genick bekam.