Decamerone – Tanja Langer

© Fotograf

Madame Lézard will Liebe

von Tanja Langer

Den Damen, die voll Furcht und Scham die Liebesflammen
im zarten Busen tragen.
Giovanni Boccacio, Das Decameron

Eines Tages, nachdem ihre älteste Tochter Annabelle zum Studieren das Haus verlassen hatte, lag Madame Lézard in der Hängematte in ihrem Garten und dachte: Nun kommt ein neuer Lebensabschnitt auf mich zu. Ich muss mir etwas überlegen. Sie sah in die Äste der alten Tanne über ihr, schubste sich mit dem linken Fuß ab und schaukelte sachte hin und her. Ich muss auch etwas Neues anfangen, wie Annabelle, sonst befällt mich das Empty Nest Syndrom. Leeres Nest, seufzte sie und ließ sich stärker schaukeln. Sie hatte von diesem seltsamen Phänomen gehört, genauer gesagt, hatte sie etwas darüber in einer der einschlägigen Frauenzeitschriften gelesen, die sie, wie viele andere Frauen, immer nur las, wenn es sie umsonst gab, mit anderen Worten, im Warteraum ihrer Ärztin. Eine große Verlassenheit befalle vor allem die Frauen, hatte da gestanden, wenn die Kinder aus dem Haus gehen. Die Beziehung der Eltern zueinander verändere sich, ja, oft müssten sie lernen, sich überhaupt wieder als Paar wahrzunehmen. Eine gefährliche Phase, mahnte die Psychologin, die, wie es die Art dieser Damen ist, über alles im Leben Bescheid wusste und es anderen auch noch sagen konnte. Ich weiß gar nichts, dachte Madame Lézard und ließ ihre Gedanken schweifen. Die beiden jüngeren Töchter, Tilly und Rosa, kamen oft spät aus der Schule; sie erwarteten zwar eine Ansprache oder etwas zu essen, doch dann zogen sie sich meistens in ihre Zimmer zurück. Sie warfen ihre schmutzige Wäsche ab und hinterließen Haarbüschel in der Dusche, über die sich Monsieur Lézard wöchentlich aufregte, wenn er wieder einmal den verstopften Ablauf reinigen musste. Kannst du deinen Töchtern nicht sagen, dass sie ihre Haare selbst entfernen? Das Entfernen ist ja das Problem, kicherte Madame Lézard mit sich selber. „Deine Töchter“ sagte Monsieur Lézard natürlich immer, wenn es etwas zu meckern gab. Sonst waren sie selbstverständlich seine.

Madame Lézards Gedanken schweiften weiter, die Augen fielen ihr immer wieder zu. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, angenehm berührten sie ihre Haut, und Madame Lézard spürte, wie sich da etwas anbahnte in ihr. Eine unbestimmte Sehnsucht, etwas, das sie nicht einordnen konnte. Die Erotik war es nicht, das Erotische war ihr ein wenig abhanden gekommen, seit sie in die „Phase“ des Lebens eingetreten war, in der sie keine neuen Nachkommen mehr produzieren und daher in den Machenschaften der Natur ein nutzloses, also auch körperlich uninteressantes und sich nicht zu interessierendes Wesen geworden war. Madame Lézard zog die Augenbrauen zusammen. Ein unangenehmer Gedanke, dachte sie. Ein dummer, überflüssiger, nicht weiter führender Gedanke. Plötzlich hörte sie Musik aus einem der Nachbargärten, eine italienische Schnulze, und in diesem Moment war sie hellwach. Ja, etwas Neues, dachte sie, etwas nur für mich, für mein Vergnügen! Sie sprang aus der Hängematte: Sie würde Italienisch lernen!

Eine Woche später saß sie aufgeregt in einem Volkshochschulkurs für fortgeschrittene Anfänger; ein bisschen Italienisch hatte sie als junge Frau bei ihren Rucksackreisen gelernt. Auf der Straße sozusagen. Madame Lézard, das muss man wissen, hatte etwas Mädchenhaftes, man sah ihr das Alter nicht unbedingt an. Sie war eher schüchtern, konnte aber überraschend einen Scherz machen oder laut über etwas lachen. Da sie als Modezeichnerin, von Arbeitsgesprächen mit ihren Auftraggeberinnen abgesehen, viel Zeit allein am Zeichentisch verbrachte, genoss sie es, neue Menschen kennenzulernen. Menschen, die alles Mögliche im Leben taten, ganz andere Dinge als sie, und die aus den unterschiedlichsten Gründen Italienisch lernen wollten. Eine Frau, die lange bei Aldi als Kassiererin gearbeitet hatte und nun in Rente war, wollte endlich die Sprache ihres Ehemanns lernen, mit dessen Familie sie, wie sie sagte, immer nur radebrechen konnte. Ein Bundeswehrsoldat hatte sich bei seinem Einsatz in Afghanistan unsterblich in eine römische Kollegin verliebt; und ein Feuerwehrhauptmann wollte die Sprache seines Vaters lernen, den er gerade erst kennengelernt hatte, weil er, wie er sich ausdrückte, das Resultat des blauen Himmels am Strand von Amalfi gewesen war. Es gab eine Reisekauffrau und eine junge Diplomatin, eine Hausfrau, die systematisch Sprachen des Mittelmeerraums erlernte, und noch andere. Die Gruppe war bei der Sache, und die Lehrerin, Signora Martinelli sehr engagiert, eine schmale Person mit elegantem Kurzhaarschnitt, die zwischendurch immer wieder aus einer Trinkflasche ein giftgrünes Smoothie sippte. Madame Lézard war überrascht, wie gern alle lernten. Niemand musste wie in der Schule oder selbst an der Uni gedrängt werden. Alle waren fleißig und wollten Fortschritte machen.

Eines Abends, es war vielleicht die achte oder neunte Woche des Kurses, der immer dienstags stattfand, stürmte ein junger bärtiger Mann in die Klasse. Er hatte einen dunklen Teint, dunkle Haare und sehr dunkle, glänzende Augen, die Madame Lézard mitten ins Herz trafen. Vor Schreck starrte sie ihn an, während er Signora Martinelli erklärte, warum er erst jetzt in den Kurs einsteigen konnte. Signora Martinelli zog einen Flunsch (das tat sie manchmal), sie mochte solche Unordnung nicht, „aber da nun noch ein Platz frei ist“, sagte sie und zeigte neben Madame Lézard, „können Sie bleiben. Die bürokratischen Dinge klären wir nachher, ich möchte jetzt mit dem Unterricht fortfahren.“ Madame Lézard war entsetzt. Der junge Mann, als hätte er nichts anderes mit diesem Auftritt bezweckt, grinste sie an, fragte noch pro Forma, „darf ich?“, und setzte sich neben sie. Er warf seine Tasche hinter sich und zog seine Jacke aus. Ein überwältigender Geruch traf Madame Lézards entwöhntes Näschen. Ein Geruch, wie nur junge Männer ihn haben, etwas leicht Verschwitztes unter dem herben Deo, etwas vom Wollpulli, etwas vom Hals, von dem der junge Mann gerade seinen Schal zog, und etwas, das Madame Lézard mit ihrer sachlichen Art als etwas Hormonelles bezeichnete. Der junge Mann, der sich ihr zugewandt als Leon vorstellte, drehte sich dicht an Madame Lézard vorbei nach hinten, um sich die soeben abgeworfene Tasche zu angeln, die er langsam auspackte. Wieder traf Madame Lézard ein Schwall Gerüche, Leder, Zigaretten, etwas Süßliches, Kaugummi. Leon legte Stifte, einen Block und eine Plastikbanane auf den Tisch, so ein dämliches Utensil, in dem man eine echte Banane aufbewahrte. Madame Lézard drehte sich betont aufmerksam Signora Martinelli zu, die gerade die Konjugation eines Verbs an die Tafel schrieb. Inwendig aber stürzte sie in eine fürchterliche Verwirrung. Diese glänzenden, schwarzen Augen, diese geradezu kitschig glänzenden Augen, und sein Geruch! Bestimmt kiffte er, durchschoss es sie, wo sonst kam dieser geradezu belladonnamäßige Glanz in den Augen her? Und wie er sie angesehen hatte! Als ob er ein Abgesandter des Teufels wäre, auf die Erde geschickt, um sie, Madame Lézard, abgeklärt und zufrieden mit ihrem Leben, in eine Falle zu locken.

Natürlich dachte Madame Lézard das gar nicht. Es spielte sich jenseits jeglichen Denkens in ihr ab. In einem Bereich, der etwas, nun, wie soll man es sagen, etwas verwahrlost war.

Sie traute sich kaum, sich zu ihm umzudrehen und konzentrierte sich auf den Unterricht. Unglücklicher Weise fiel Signora Martinelli am Ende der Stunde nichts Besseres ein als sie zu bitten, dem neuen Schüler ein bisschen unter die Arme zu greifen. Madame Lezard konnte fühlen, wie sie rot anlief, sie stotterte, dass sie keine Zeit habe, aber das kam ihr so unhöflich vor, das machte es ja verdächtig geradezu; Signora Martinelli warf ihr auch schon einen entsprechenden Blick zu; also nickte sie und schrieb Leon ihre Handynummer auf. „Vielleicht nächste Woche vor der Stunde im Café, ein paar Häuser weiter“, schlug sie vor.

Madame Lézard hatte straßenköterblondes Haar, was den Vorteil hatte, dass sich jetzt, als sie älter wurde, die Farbe kaum veränderte. Sie war, wie man es früher im Märchen genannt hätte, einäugig, wobei man sich unter einer einäugigen Frau meistens eine beunruhigend hässliche Person vorstellte, die an der Stelle des nicht vorhandenen Auges eine Narbe hatte. Madame Lézards Augen hingegen strahlten beide in einem changierenden Grautürkis, je nach Lichteinfall, in dem winzige goldene Fleckchen tanzten, „geradezu so, als schaute man in ein phantastisches, von keinem Müll verseuchtes Meer!“ Das sagte jedenfalls Leon, als sie sich zu ihrem ersten Lerntermin trafen. Madame Lézard errötete wieder, doch offenbar fand der junge Mann an ihren Augen ebenso Gefallen wie sie an seinen. Sie sagte ihm nicht, dass sie, seit sie als neunjähriges Mädchen von einem Baum gefallen und auf den harten Boden der Straße geknallt war, eine Verletzung der Netzhaut hatte. Sie erfasste die Welt sehr klar, nur manchmal fiel es ihr schwer, etwas oder jemanden zu fokussieren, sie bekam dann einen leichten Silberblick. Seit kurzer Zeit brauchte sie zum Lesen und Nähen auch eine Brille. Selbst ihre Brille lobte Leon.

Sie trafen sich nicht nur einmal, sondern fast jedes Mal vor dem Unterricht und steckten im Café die Köpfe zusammen. Sie trank einen Caffè Crema und er eine Cola, sie verglichen ihre Hausaufgaben, übten die Aussprache und lachten. Leon sah ihr vollkommen unverblümt in die Augen, auf den Mund und in den Ausschnitt; Madame Lézard machte es zunehmend nervöser; zugleich freute sie sich jede Woche mehr auf den Unterricht. Sie geriet in eine Aufregung, die zu erleben sie für ihr Leben eigentlich schon für ausgeschlossen gehalten hatte. Sie schob sie natürlich beiseite, tat so, als ginge sie vollkommen in ihrem Alltag und im Lernen der neuen Sprache auf. Sie nahm nicht einmal zur Kenntnis, dass auch die anderen Frauen Leon interessiert ansahen. Sie war einfach hingerissen von seiner Schönheit, seinem frechen, zugleich warmherzigen Wesen, unter dessen Oberfläche sie sehr wohl etwas Kompliziertes wahrzunehmen glaubte. Kompliziert war gar kein Ausdruck; er hatte manchmal eine fast irre Intensität in seinen so unglaublich glänzenden, sie geradezu gierig hineinziehenden Augen, was er, wenn er merkte, dass sie es bemerkte, schnell hinter einer jungenhaften Höflichkeit zu verbergen suchte.

Madame Lézard war lange genug auf der Welt, um zu wissen, was sie da anzog.

Die Marmelade vom Sommer schmeckt nicht mehr, die Melonen sind nicht süß, dachte sie. Irgendwann, vor langer Zeit, hatte sie einmal gelesen, dass es nichts Beglückenderes gäbe, als sich dem Schönen zu überlassen. Genauer gesagt, einem schönen Menschen, das war damals gemeint gewesen. Sicher hatte sie es gelesen, als sie sich in Monsieur Lézard verliebt hatte. Monsieur Lézard war ihr zweiter Ehemann; sie hatten sich beide mit einer so großen Leidenschaft ineinander verliebt, dass sie ihm all die Jahre treu ergeben geblieben war, selbst, als sich ihr wildes Ineinander des Anfangs mit den Jahren in eine innige Zärtlichkeit verwandelt hatte. Monsieur Lézard war ein gelassener Mann, der etwas älter war als sie und in seiner Arbeit als Dozent für Philosophie vollständig aufging. Ihr Zusammenleben, die Töchter, mit denen ständig etwas los war, füllte sie aus. Sie hatten immer etwas zu erzählen, sie lachten zusammen, sie genossen ihr Leben.

Schwermut ist ein anderes Wort für ohne Weg zu sein, und Schwermut hatte Madame Lézard vor ein paar Jahren durchaus befallen, als die ihrem Alter entsprechenden Veränderungen sie heimsuchten und ihr etwas raubten, was sie bis dahin mit einer vollkommenen Selbstverständlichkeit und als zentralen Teil ihres Wesens erlebt hatte, ihre sexuelle Lust. Nicht vollständig, aber doch in hohem Maße. Monsieur Lézard, der wie gesagt, etwas älter war als Madame Lézard, begleitete diesen Weg fast freundlicher als sie. Ob er Geheimnisse hatte? Sie wusste es nicht. Abends legte sie sich in Monsieurs Arme, er küsste und koste sie und sagte „mein lieber Stern“, und sie murmelte etwas Vergleichbares. Allmählich hatte sie sich in den Zustand eingefunden, und irgendwann stellte sie fest, dass sie gar nichts besonders vermisste.

Und nun? Nun befiel sie eine solche Unruhe; sie kannte sich selbst nicht mehr. Im Laufe des Tages sah sie des Öfteren auf ihr Handy, das selten einmal klingelte, und erschrak zutiefst, wenn Leon eine SMS schickte: Bleibt es dabei, wie immer?

Der Winter war mild, viele Menschen genossen die Sonne und waren im Freien unterwegs, und mit einemmal sah Madame Lézard überall junge dunkeläugige Männer mit Vollbart, wie auch Leon einen trug. Wo kamen die nur alle her? Waren es die Bewohner aus Damaskus? Aus Aleppo? Die in die Stadt strömten, so viele, sicher, wegen des Kriegs, aber vielleicht auch, um den Genpool der Welt aufzumischen, dachte Madame Lézard, die in solchen Fragen die Biologie nicht außer Acht lassen konnte, in diesen Fortpflanzungsprogrammen, von denen die Menschen immer dachten, dass sie keine Rolle mehr spielten. Aber klar, das müde alte Europa brauchte dringend etwas Auffrischung, und da waren sie, die gutaussehenden, unwiderstehlichen jungen Männer aus dem, was man bis vor Kurzem Orient nannte, was ja nun politisch nicht mehr korrekt war, leider, wo es doch so schön zum Träumen verführt hatte, wie diese charmanten jungen Männer. Aber sie? Sie konnte definitiv nichts mehr tun für den Genpool dieser Welt, war denn Leon irgendwie aus diesem System gefallen? Was wollte er denn von ihr? Vom Alter her wäre das nicht gut, nicht gut, aber das hatte es ja früher schon gegeben, die Jungs vögeln herum, lernen bei älteren Frauen, nehmen sich junge Naivchen oder wilde Mädchen, und dann, eines Tages, zack, finden sie dann die arme Person, die sie später bei jedem Fremdgang „die Mutter meiner Kinder“ nennen und nichts auf sie kommen lassen.

Madame Lézard schwirrte der Kopf. Auf was für Gedanken ließ sie sich denn da ein? Es war ja nicht zum Aushalten. Hatte sie nichts Vernünftiges zu denken? War das wichtig? Tatsache  war, dass jetzt immer mehr junge Männer beschlossen, so eine hübsche Männlichkeit will ich auch, und hopp, sich einen Bart sprießen ließen, so dass Madame Lézard die vielen jungen Männer alle miteinander verwechselte und sie immerzu glaubte, nur einen zu sehen: Leon.

Eines Nachmittags auf dem Weg zum Café vor dem Kurs lief Leon neben ihr durch die Fußgängerzone, er griff nach ihrer Hand, sagte, wie schön ihr Haar in der Sonne glänze und lachte über ihre Bemerkungen. „Komm doch“, sagte er zu ihr, „komm mit mir in meine Wohnung. Ich mache dich glücklich!“ Sie schüttelte lachend den Kopf, „nein, nein, mein Lieber, ich bin doch viel zu alt für dich!“

Leon blieb stehen, es blieb ihr nichts anderes übrig als es auch zu tun. „Jedes Jahr, das du gelebt hast, macht dich schöner!“

Madame Lézard wusste nicht, was sie sagen sollte, er nutzte den Moment und zog sie an sich, sein Geruch überwältigte sie, doch sie wand ihr Gesicht zur Seite, als er sie auf den Mund küssen wollte. Die trockenen Schleimhäute, die Muschicreme, die Ängste, die Vorstellung, sich auszuziehen, das alles fuhr ihr in die Glieder, das alles war nicht schlimm mit Monsieur Lézard, der war ja mit ihr älter geworden, aber mit diesem jungen Kerl?

Als sie sich trafen, war es weit weg von Madame Lézards Bewegungsfeld, wo er für eine große Informatikfirma arbeitete und um die Mittagszeit Hunderte von jungen Menschen ausschwärmten, die etwas ähnliches taten wie er, in Musikfirmen oder Pop Ups oder Start Ups oder sonstigen Läden der Kreativwirtschaft. Inzwischen war es Februar und es roch nach Frühling. Alle zog es in die Sonne hinaus, mit ihren Pappbechern Macchiato oder Latte to go, es war ja noch vor Gretas Zeiten. Diese Sorglosigkeit! Madame Lézard war so aufgeregt, als träfe sie zum ersten Mal einen Mann, viel aufgeregter als sie es jemals als junges Mädchen oder junge Frau gewesen wäre, als sie das alles ganz normal fand. Ihre Hand zitterte, als sie den heißen Becher in Empfang nahm, den Leon für sie kaufte. Sie liefen die Straße entlang zum Wasser, die vielen Leute, die ausschwirrten, besetzten die Cafétische oder liefen mit ihnen zum Fluss, sie redeten und lachten, und die gute Laune hatte etwas so Ansteckendes, dass Madame Lézard übermütig wurde und Leon anstrahlte und mit ihrer freien Hand seine Hand nahm. Sie liefen am Wasser entlang und setzten sich schließlich auf eine der Betonabgrenzungen am Wegrand. Zum ersten Mal saßen sie so dicht beieinander, dass Madame Lézard seinen gespannten Körper spürte. Das Wasser glitzerte. Leon beugte sich zu ihr, er sagte etwas, das sie nur halb verstand, und plötzlich störte sie etwas an seiner Nase. Nicht, weil ein wenig Popel darin zu sehen war, sondern die Kürze der Nasenflügel. Der gerade Nasenrücken, die etwas gestutzte Form. Sie war ihr nie so ausgefallen wie jetzt im Sonnenlicht, das jede kleine Unebenheit der Haut erbarmungslos zeigte. Die jugendlichen Mitesser, die er offenbar immer noch hatte, das Müde von irgendwelchen Clubnächten, sie konnte es nicht sagen. Oder war es eine Schutzmaßnahme? Dass sie sich an solchen Kleinigkeiten störte? Sie war verwirrt, sie fühlte sich zu Leon hingezogen, sie musste nur in seine Augen sehen und schon befiel sie dieses sonderbare Gefühl, dass alles sie nach unten zog, wie eine überdimensionierte Schwerkraft, und dass alles in ihrem Körper in Aufruhr geriet, eine Aufruhr, die sich nur beruhigen würde, wenn sie ihr nachgab und sich endlich küssen ließ.

In diesem Moment schob Leon seine Hand unter ihre Lederjacke und fasste ohne Umschweife an ihre Brust. „Sag mal, spinnst du?“, entfuhr es ihr. Sie wehrte seine Hand entschieden ab. „Lass das, bitte!“ Er grinste. Gerade lief eine ältere Frau mit Kopftuch mit ihrer  vielleicht zwanzigjährigen Tochter vorbei, beide starrten sie an, und er griff ihr, die seine Mutter sein könnte, an den Busen? Noch dazu, ohne sie zuvor zu küssen? Was? Leon zuckte zurück, ließ sich aber nicht wirklich schrecken, er lachte, „so schüchtern, Madame Lézard?“ Er fühlte sich überlegen! Madame Lézard war zwar schüchtern, aber nicht blind; sie war ja nur schüchtern, weil sie aus der Übung und von ihren eigenen erotischen Regungen überrumpelt war, aber nicht, weil sie kopflos und ohne Willen und wer weiß was noch war, was der junge Mann sich offenbar einbildete. „Leon,“ sagte sie, „so geht das nicht.“

„Du spielst“, sagte er und legte den Arm um ihre Schultern,„ich mag das.“ Sie roch den billigen Kaffee, Nikotin, und irgendwo darunter seinen Körper.

Sie rührte sich nicht. Ja, dachte sie, so denken es die jungen Menschen. So dachten es schon, als sie jung war, die jungen Männer. Sie kapierten es einfach nicht. Sie lebten in einer anderen Welt. So war es zu zahlreichen Missverständnissen gekommen, schon immer.

Er nahm den Arm wieder fort. „Entschuldige. Dann lass noch ein paar Schritte laufen.“

Die romantische Stimmung war hin. Leon musste zurück zu seiner Arbeit und Madame Lézard nach Hause. Er begleitete sie zur U-Bahn; auf dem Weg löste sich die Anspannung und sie redeten über das schöne Wetter, die vielen Leute, die unterwegs waren, seine Firma, in der er sich nur halb wohl fühlte, weil ihn die Arbeit nicht ausfüllte und die Kollegen so wenig interessiert aneinander waren.

In der Woche danach bekam sie wieder die SMS, bleibt es dabei, und so saßen sie wieder im Café zusammen. Etwas zurückhaltender als sonst. Ohne dass sie fragte, fing Leon an, über seinen Vater zu reden, einen Italiener. Er sei ein kleiner Ladenbesitzer, den die Leute nicht immer nett behandelten, „das sind echte Rassisten“, sagte er. Sein Bruder habe deswegen psychische Probleme, zumal seine Mutter auch nur eine halbe Deutsche gewesen sei, und halb eine Polin. Nur seine kleine Schwester sei die Hoffnung der Familie. Die Wut der Ausgeschlossenheit stieg Leon in die Augen, in die Röte seines Gesichts, die Härte seiner Worte. Sie traute sich nicht einmal zu fragen, weshalb er sagte, die Mutter sei es gewesen. Gerade auf diese Wut, diese Verdüsterung aber reagierte sie heftig; auf den ersten Blick, ohne Worte, das war es gewesen, von Anfang an, lange bevor sie etwas über ihn oder seine Geschichte erfuhr. Sie hatte sich immer von solchen Menschen angezogen gefühlt, etwas an ihnen zog unwiderstehlich an, die ungefilterte Art, wie alles aus ihm herausgeschleudert kam, die Verzweiflung, das Verlangen, die Lebenslust und der Lebensekel. Wenn er seine Wut doch in Ehrgeiz verwandeln könnte, dachte sie, was könnte er alles erreichen!

Man hat gut wissen, hatte ein alter Freund von Madame Lézard immer gesagt, ein Psychoanalytiker, die Menschen leben eben nicht nach der Vernunft. Und so sprang Madame Lézard, ihren ganzen Überlegungen zum Trotz, sofort aus dem Haus, als Leon an einem regnerischen Samstagmittag anrief und vorschlug, sich zu treffen, sich zu sehen, mitten in der Stadt. Voller Vorfreude, in der Madame Lézard alles, aber auch alles an Vorbehalten verdrängte, wartete sie auf einer großen Einkaufsstraße vor einer Buchhandlung. Es nieselte heftig, und wer nicht kam, war Leon. Sie schickte eine SMS, keine Antwort. Sie rief an, keine Antwort. Leon ließ sie warten. Sie wurde ärgerlich, sehr ärgerlich, sie wollte gehen, doch ein Teil von ihr war so störrisch wie ein Esel, ein Teil von ihr, der offenbar ganz langsam tickte, und auf keinen Fall dieses schöne Treffen aufgeben wollte. In diesem Moment kam Leon angestürmt, „verzeih mir, verzeih“, rief er schon von Weitem und dann umarmte er sie. „Warum hast du nicht gesimst, dann hätte ich hier nicht so dumm rumgestanden“, sagte sie. „Der Akku war leer“, sagte er und hielt ihr zum Beweis das Handy unter die Nase. Sie war wütend, es war aber eine Wut, die ihr zeigte, wie verwundbar sie ihm gegenüber war, was sie noch mehr verärgerte.

Es war kein schönes Treffen; Leon benahm sich nach der ersten Entschuldigung verstörend, unfreundlich, sie merkte, dass ihn etwas umtrieb, und fragte ihn. Er antwortete ausweichend, Probleme mit der Arbeit, Probleme, „außerdem brauche ich ein Geschenk für einen Kollegen, der heute Abend Geburtstag hat, eine spontane Einladung.“ Schließlich bestand das Rendezvous darin, dass sie mit ihm in ein Kaufhaus ging, um etwas für den Kollegen auszusuchen, als wäre sie seit hundert Jahren seine Freundin, mit der man so etwas eben machte, und nicht eine ältere Frau, die sich ein Treffen mit einem jungen Mann aus den Rippen gerissen hatte. Sie fühlte sich schlecht, sie hatte Sehnsucht nach Monsieur Lézard, der so etwas nie tun würde, und den sie noch dazu hinterging.

Doch wer kennt schon sich selbst? Und sind wir nicht auf der Welt, um das Leben in seinen Facetten kennenzulernen? Kaum sagte Madame Lézard, dass sie nun nach Hause müsse, dass die Familie sie erwarte, erwiderte Leon bestimmt: „Ich fahre noch ein Stück mit der S-Bahn mit dir, es tut mir leid, dass ich so viel kostbare Zeit vergeudet habe“, und schon war alles wieder gut, trotz Madame Lézards nun aufmerksam alles registrierender innerer Kontrollstelle. An der Station, an der Madame Lézard umsteigen musste, sagte sie, sie müssten sich nun verabschieden. Plötzlich küsste Leon sie, er küsste sie so überraschend, dass nichts mehr zu machen war und sie sich küssen ließ. Es funkte, es war ja klar, es war haltlos schön und er küsste genauso, wie diese wilden, unbändigen Menschen, die sich ihren Launen einfach überlassen, eben küssen können.

Madame Lézard stieg in die S-Bahn, völlig benommen, und winkte Leon zum Abschied. In Erinnerung an den Wahnsinn, in den sie die körperliche Liebe immer gerissen hatte, und in Gedanken an all die Konsequenzen, wenn eine ihrer Töchter in der S-Bahn vorbei gefahren wäre und aus dem Fenster geschaut hätte, und ihre Mutter stünde da, mit einem Kerl, noch dazu nur wenige Jahre älter war als sie selber, na gut, zehn Jahre älter, aber trotzdem, eher zu ihrer Alterskohorte gehörend jedenfalls, der sie leidenschaftlich küsste? Madame Lézard wurde ganz schlecht. Nicht auszudenken, nicht auszudenken! Die jungen Frauen heute waren ohnehin so moralisch, aber vor allem, sie war ja ihre Mutter!

Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Denk nicht, sagte sie sich selbst, wunder dich nicht, sieh zu, dass du deine Haut rettest!

Doch da war noch etwas anderes, das sich in diesem Kuss offenbarte, etwas vollkommen jenseits der Moral. Madame Lézard spürte es, und vielleicht hatte ihr Unbewusstes es schon viel früher begriffen. War es, als ihr seine Nase missfiel, der kleine Popel, und er ihr an den Busen griff? Sie war sich nicht sicher, hatte irgendwo auf eine Ernsthaftigkeit gesetzt, die sie selber am Ende des Tages gar nicht aufbringen würde. Sie wusste plötzlich genau, wie sich alles weitere abspielen würde. Sie sah, was passieren würde, wenn sie sich träfen, in seinem Zimmer, einmal, zweimal, sie sah sich, und ihn, die Bewegungen, die Abläufe, und dann –

Wann vollzog sich in Madame Lézard die Wende? Irgendwo zwischen Popel, Café und Kuss? Die Erkenntnis, dass Madame Lézard begriff: Es war keine Liebe. Sie aber wollte Liebe, und so ging sie nach Hause und legte sich in den Arm von Monsieur Lézard.

Der ungestüme Teil von ihr mochte es nicht wahrhaben, doch da war sie: Die Erinnerung. Dass sich die erotischen Aufregungen nicht selten wieder gelegt hatten, und zwar gar nicht so lange, nachdem sie ausgebrochen waren. Sie hatte das alles vergessen, nun tauchte es wieder auf; es stimmte also, dass im Gehirn bestimmte Synapsen aktiviert werden können, wenn andere Synapsen, in benachbarten Arealen, es ebenfalls wurden. Leon weckte etwas in ihr, etwas sehr Abgründiges. Früher hatte sie ständig solche Typen gekannt. Ihr fielen etliche Begebenheiten ein, bei denen nach einem fulminanten Auftakt etwas vorgefallen war, eine dumme Bemerkung, ein abweisendes Verhalten, und schon war sie abgekühlt, hatte sich wortwörtlich aus der Affäre gezogen. Der Unterschied zu heute war, dass sie sich als junge Frau immer erst einmal hineingeschmissen hatte, in die Arme junger Männer, ihre Betten, in die Liebesdinge. Manchmal war es verheerend ausgegangen. Jetzt aber konnte sie es vorhersehen. Sie konnte es sich ausmalen, Schritt für Schritt. Das Zimmer, die Bewegungen, die Gesten. Und Madame Lézard wusste, das würde nichts. Er war nicht bei sich, er würde sie kontrollieren wollen, und es würde ein Desaster. Diese Art Sex langweilte sie noch dazu, er hatte sie schon immer gelangweilt, auch wenn es ihr missfiel, so etwas zu denken, aber so war es. Entweder es wurde etwas losgetreten oder eben nicht. Und Leon unterschätzte sie, vollkommen, aber sie selbst hatte sich auch unterschätzt, nur weil sie mit dem Erotischen nicht mehr so viel zu tun gehabt hatte in der letzten Zeit. Sie hatte es für einen Moment einfach vergessen, was sie wusste, trockene Schleimhäute hin, Östrogensalbe her.

Wer spielte also mit wem? Es mag ja etwas altmodisch klingen, sagte sie zu sich selbst, während sie einen Faden abschnitt und auffädelte, aber vielleicht warte ich einfach noch ein bisschen, wie sich diese Wallungen entwickeln.

Leon rief sie an. Er wollte sie in sein Zimmer in seiner WG locken. Sie weigerte sich. Er verstand es nicht. Er ließ seine Stimme in allen Registern klingen. Im Unterricht saß sie neben ihm wie auf Kohlen, sie musste an sich halten, ihn nicht anzufassen. Manchmal griff sie nach seinem Bleistift. Er grinste.

Durch einen Zufall lief Madame Lézard in der Woche darauf hinter zwei Mitschülerinnen her, die sich über Leon unterhielten. „Doch, doch“, sagte die eine, Elsie, „ich hab ihn gesehen. Letzten Samstag. Sie war mindestens zwanzig Jahre älter als er.“ – „Kann sein, ich glaube, Signora Martinelli meinte auch so etwas, dass er eine sehr viel ältere Frau zur Freundin hat“, gab Carina zurück. – „Na, das passt ja“, sagte Elsie, „das ist so der Typ MILF.“ – „MILF? Was soll das denn sein?“- „Kennst du nicht? Das heißt Mother I’d like to fuck, das sagen jüngere Männer, die auf Ältere stehen“, Elsie fing an laut zu lachen, während Madame Lézard ihren Ohren nicht traute. „Das ist das Pendant zu DILF“, brüllte Elsie, die es offenbar außerordentlich komisch fand, „Daddy I’ d like to fuck.“

Madame Lézard wäre beinahe stehen geblieben, mitten in der Fußgängerzone, aber es zog sie weiter, hinter den beiden her. Mit einer älteren Frau? Es schüttelte sie innerlich. Wer sollte das sein? Und sie selber? Sie war doch keine – ältere Frau! Eine MILF? Eine ältere Frau, das war … ja, was war eine ältere Frau eigentlich? Ab wann? Mit wie viel Lebensjahren? Wie viel grauen Haaren? Sie hörte gerade noch, wie Elsie sagte: „Es gibt noch ein Wort dafür: MSAmotherly sexual attractiveness.“

Nur weil es Wörter für alles gibt, denken die Menschen, sie verstünden das Leben, dachte Madame Lézard empört, aber das Leben, das präsentiert dir seine Rechnung, wenn du etwas nicht kapierst, verlass dich drauf.

Nach drei oder vier Wochen wurde Leon launisch und gereizt. Seine Augen glühten noch mehr als sonst, Madame Lézard empfand jedes Mal einen Stich, wenn sie es sah. Eines Abends nach dem Unterricht packte er sie am Handgelenk und zerrte sie zu einer Bank in der Fußgängerzone. Sie stolperte hinter ihm her. Sie fühlte sich wie mit Zwanzig. Sie saßen im Schutz der Dunkelheit und von Passanten, Jugendlichen, die abhingen, Obdachlosen mit ihren Tüten, Männern, die rauchten. Leon erzählte wieder von seinen Eltern, die mit ihrem Gemüseladen in Flensburg immer wie Menschen zweiter Klasse behandelt worden waren. Sein Vater, der aus Rimini kam, habe nie wirklich Fuß gefasst. Sein Bruder habe deshalb psychische Probleme. „Nur meine kleine Schwester ist die Hoffnung der Familie.“ Er wiederholte fast wörtlich, was er ihr schon einmal gesagt hatte. Seine Augen verschleierten sich. Er redete immer schneller, schleuderte eine Verachtung gegenüber seinen Mitarbeitern, seinem Chef, dann den Deutschen generell heraus. „Das ganze Leben bringt doch nichts,“, sagte er. Dann packte er sie am Nacken und zog ihr Gesicht ganz nah an seines heran. „Du hast nichts verstanden, überhaupt nichts“, sagte er. Dann ließ er sie los, lachte, wie ein Junge, und mit einem Mal leuchteten seine Augen wie immer, er sprach vom Mond und von den Sternen und wie sehr er sie begehrte und wie sehr er sich wünschte, sie würde einfach mal die Moral Moral sein lassen.

Als sie sich trennten, liefen Madame Lézard die Tränen nur so übers Gesicht.

In der Woche danach erschien Leon nicht zum Unterricht. Madame Lézard schaute immer wieder zur Tür, hoffte, er käme nur verspätet. Sie hatte nichts mehr von ihm gehört, keine SMS, nichts.

Einige Tage später erhielt sie eine Email von Signora Martinelli: „Liebe Madame Lézard, da Sie ja immer neben Leon gesessen haben und ihn, wie ich glaube, bemerkt zu haben, mochten, möchte ich Ihnen folgendes mitteilen. Ich werde es vor der Klasse etwas anders formulieren, aber sie sollen wissen,  Leon befindet sich im Krankenhaus, vorübergehend in der psychiatrischen Station.“ Unmittelbar stürzten Madame Lézard Tränen aus den Augen. Ich bin Schuld, dachte sie, ich bin Schuld, ich habe ihn durcheinander gebracht. Sie musste sich zwingen, weiter zu lesen. „Er ist zusammengebrochen. Wahrscheinlich ein Mix aus Alkohol, Canabis und anderen Drogen, die er wiederholt benutzt hat.“ Plötzlich hielt Madame Lézard inne. Wieso wusste Signora Martinelli davon? Warum wurde sie informiert? Eine Lehrerin, die er einmal die Woche sah? „Leider darf er keinen Besuch erhalten.“

MSA, motherly sexual attractiveness. Madame Lézard fiel in sich zusammen. Das war es also, davor hatte sie ihr eigenes System retten wollen.

Bei der nächsten Unterrichtsstunde nahm Signora Martinelli sie beiseite. „Ich muss Ihnen etwas sagen“, sagte sie. Sie wartete, bis die anderen losgezogen waren und folgte ihnen etwas langsamer in den Hof. „Leon“, fing sie an. – „Was ist mit ihm?“ – „Er wollte zurückgehen, nach Flensburg.“ – „Aber?“ – „Ich war einmal im Krankenhaus, er hatte mir geschrieben, er hat offenbar keine guten Freunde hier, jedenfalls, die Wahrheit ist, er hatte bereits mehrere Selbstmordversuche unternommen – er -“

Nur weil es Wörter für alles gibt, denken die Menschen, sie verstünden das Leben, dachte Madame Lézard, aber das Leben, das präsentiert dir seine Rechnung, wenn du etwas nicht kapierst, verlass dich drauf.

Sie hörte kaum noch, was Signora Martinelli sagte. Es wäre eine böse Moral, dachte sie, wenn das in einem Film vorkäme, fände ich das puritanisch, frauen- und liebesfeindlich. Sollte man bestraft werden, weil so etwas geschah?

„Madame Lézard, hören Sie, es ist sicher besser so. Seine Familie weiß ja Bescheid, er ist neu eingestellt worden, es war einfach nicht gut für ihn, hier zu sein, so allein. Die Schizophrenie bricht oft aus, wenn jemand in eine ungewohnte Umgebung kommt oder in eine Krise gerät, aber in diesem Fall waren es wohl die Drogen, die sie getriggert haben.“

Madame Lézard nickte. „Daher immer diese glühenden Augen“, sagte sie leise.

„Ja“, sagte Signora Martinelli und fasste kurz ihren Arm, „daher wohl die glühenden Augen.“

***

Jedes Lebensjahr, das du älter wirst …

Der Frühling vom März verschwand, es wurde noch einmal frisch im April, bis in den Mai hinein, und Madame Lézard ging ihren Aufgaben nach. Manchmal aber, auf eine fast zerstreute, flüchtige Weise, dachte sie an Leon. Wie er sie angesehen hatte, beim Lernen, im Café. Während sie ihre Vokabeln wiederholte, Modelle zeichnete, Stoffe zuschnitt oder Knöpfe mit der Hand annähte, hatte sie ja genügend Zeit.