Karosh Taha
Karosh Taha verbrachte im Herbst 2021 mehrere Monate in Prag. Dort verfasste sie den folgeden Bericht.
In Prag wachte ich auf
Wenn man einem anderen Menschen von einem Traum erzählt, sagt man im Kurdischen Xer bt, man spricht einen Segen aus. Xer bt.
In Prag kann ich mich nicht auf meine Sprachen verlassen, schreibe ich am 24.09.21 in mein Notizbuch, mit Datum und Ortsangabe. Denn ich weiß, dass ich den dritten Roman in Bewegung schreiben werde.
Ich sitze in der Tram und beobachte die Fahrenden, versuche die Haltestellen zu lesen, vergleiche sie mit der weiblichen Stimme der Tramdurchsagen: Schrift und Aussprache korrespondieren nicht miteinander. Die Haltestellennamen kenne ich aus Google Maps, ich lese nicht, ich sehe die Namen, die Schrift kehrt zu ihrem Ursprung zurück: sie wird ein Bild.
Wie spricht eine Stadt zu mir, wenn die Sprachen, die ich habe ihre Bedeutung verlieren.
Ich achte auf die Architektur, auf Denkmäler, auf Merkmale, auf Säulen und Brunnen, auf Sexshops und Buchläden, auf Souvenirshops und Cafés; ich achte darauf, welche Biegung die Straße nimmt, welche Brüche im Asphalt wachsen. Wenn die Tram vorbeifährt, lege ich meine Hände auf das Steingeländer der Brücke und spüre die Vibration von Eisen und Stein. Ich weiß nicht, wie die Brücke heißt, aber von hier aus kann man die Karlsbrücke gut sehen, über das Wochenende sind mehr Touristen dort als unter der Woche, sie fotografieren die Statuen, berühren sie an den golden glänzenden Stellen, wo sie ihre Wünsche formulieren. In der Nacht an meinem Geburtstag besuchte mich eine Freundin, wir saßen unter einer Statue, auf dem Steingeländer, ich erzählte ihr von meinen letzten drei Albträumen, in allen kam eine Frau vor, als begegnete ich meiner Doppelgängerin in meinen Träumen, und jedes Mal wollte sie mir zu nahe kommen.
Ich erzählte ihr:
23.10.21/Prag
Im Garten der Pension sitzt eine Frau, allein, in einem dünnen Mantel; ihr muss doch kalt sein, aber sie rührt sich nicht, ich stehe am Fenster, meine Reflexion kaum sichtbar, beobachte die Frau, dann den Himmel, als könnte ich ihr durch meine Blickwanderung mitteilen, dass es bald dunkel wird und sie sich in ihre Unterkunft begeben sollte. Sie sieht mich nicht, sie weiß nichts von mir, ich kann sie nicht vor der Dunkelheit beschützen, als brauchte sie das gar nicht. Die Dämmerung weicht der Dunkelheit aus, in diesem Moment verstehe ich: die Frau hat auf die Nacht gewartet und sie schaut bei diesem Gedanken zu mir herüber und sieht mich, nicht zum ersten Mal.
Wer ist diese Frau, fragt meine Freundin.
Ich weiß es nicht, aber als Kind träumte ich immer von einer menschenfressenden Hexe; ich habe Angst vor ihr, aber ich weiß, dass sie mich nicht fressen wird, daran glaube ich nicht mehr. Ich weiß nicht, was sie will, ich weiß auch nicht, warum ich Angst vor ihr habe, vielleicht weil sie draußen ist und ohne meine Erlaubnis reinkommen möchte.
Mir entgleitet die Struktur, aber das wolltest du doch, könnte meine Freundin gesagt haben. Nochmal: Wie spricht eine Stadt, wenn die Sprache wegfällt, ausfällt, wenn die Sprache Bild ist, wenn sie in das Unterbewusstsein sickert und ich ihr in Träumen begegne: Prag ist eine Frau; die Grammatik ist nicht so wichtig wie die Wahrheit, schrieb Gabriel Laub über Prag.
Wie sehe meine Traumsprache aus, wenn ich nicht die lateinischen Buchstaben kennen würde; wenn ich mich zum Beispiel in Moskau befände statt Prag, wenn es zum Beispiel 1993 wäre statt 2021, wenn mir statt Kurdisch, Deutsch, Englisch nur Kurdisch und Arabisch zu Verfügung stünden, wenn mir die Wesen westlicher Großstädte unbekannt wären, weil ich zum Beispiel aus Zaxo komme.
Mein Vater befand sich in dieser Situation und ich denke sehr oft, nicht oft genug, daran, wie er sich damals in Moskau orientierte. Wir haben nie darüber gesprochen. Wie hätte er darüber sprechen können, wenn er selbst dafür keine Sprache hatte. Hat er mir von seinen Träumen erzählt? Wahrscheinlich, aber ich habe sie mir nicht gemerkt, man merkt sich nie die Träume anderer Menschen.
Hier zu sein, beinahe ohne Sprache, die Unterhaltungen der Pragerinnen in der Bahn nicht verstehen, nicht verstanden werden, so außerhalb dieser Welt zu sein, gibt mir eine Ahnung, wie es meinem Vater ergangen ist, in Prag zu sein ist als würde mein Vater mir erzählen, wie es damals für ihn in Moskau gewesen ist und gleichzeitig erinnert er mich daran, was ich habe: ein Smartphone, eine Kreditkarte, einen Uniabschluss, Englisch, die deutsche Staatsbürgerschaft. Ich befinde mich nicht auf der Flucht, ich bin keine Gejagte, manchmal genieße ich sogar diese Fremde, für meinen Vater war es ein Albtraum.
