„Da zirp ich / leise, / wie es Heimchen tun.“

Foto: Moritz Röber

Wir dokumentieren hier den Text, den Oskar Ansull für die globale° im Rahmen der Kooperation mit dem deutsch-tschechischen Festival “So macht man Frühling” am 10.04.2024 im Theater am Leipnitzpatz vorgertragen hat.

Oskar Ansull, Bukowina – Rede am 10. April in Bremen

GUTEN ABEND – l e i s e  zirpt der gebürtige Bukowiner Dichter Paul Antschel. Leise zirpt auch die Literatur der Bukowina, sie wird wiedermal übertönt und erschüttert von Bombenlärm. So ist es nicht leicht und lustig von Literatur zu sprechen, aber es muss ja nicht immer lustig zugehen.

Der zwanzigjährige Paul, der sich später Celan nennen wird, spricht gleich zweimal – im Gedicht „Drüben“ – vom Zirpen, weil: für den Jungen aus der Wassilko-Gasse, begann erst jenseits der Kastanien … die Welt, seine ’Globale‘, die sich ihm als Jugendlicher in einem Nachbarstadtteil, der für ihn hinter den Kastanien lag, kulturell öffnete. Er war schon früh auf dem Sprunge, aus seinem Heim—chen Czernowitz, weiter hinaus in die Welt. Heimchen, sind Hausgrillen, auch „Acheta“ = Sänger, genannt, die durch ihre Lebensweise ‘kosmopolitisch‘ Verbreitung finden. Zirpen und Singen. Die LiteraturLandschaft der Bukowina, des Buchenlandes, singt in Gedichten und Liedern. Vor allem Lyrik kommt, kam  aus der Bukowina.

Doch zuerst zu: BREMEN, auch wenn ich gefahrlaufe, eine Eule an die Weser zu tragen. Wer hier von der Literatur der Bukowina auch nur ein wenig spricht, der kommt an Bremen nicht vorbei.    

Das Gedicht, – sagte Paul Celan bei der Entgegennahme des Bremer Literaturpreises 1958. Ein Preis, der von Neben-Spuren der Nazi-Zeit nicht ganz frei war. Ausgerechnet ein ehemaliges NSDAP-Parteimitglied, Erhart Kästner, hielt damals die Laudatio. Ein Preis, den der Juryvorsitzende Rudolf Alexander Schröder partout nicht an Celan vergeben wollte. Doch Schröder fehlte bei der entscheidenden Sitzung.

Das Gedicht, sagte Celan, kann eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiss nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht.  

Damit setzte er den Herzton (!) auch des heutigen Abends.

Celan sprach von der trotz allem unverlorenen Sprache, die hindurchgehen musste, durch furchtbares Verstummen, durch die tausend Finsternisse todbringender Rede, eine Sprache, die keine Worte hergab für das Geschehene. Aber sie ging hindurch und durfte wieder zutage treten, „angereichert“ von all dem. Das Wort „angereichert“ in Gänsefüßchen gesetzt. Schröder und Kästner mussten zuhören und hatten zuvor noch in eben der Sprache gesungen und gesprochen, die Celan schonungslos als missbrauchte benannt hat.  

Doch die Bukowina . . . eine nur noch in Gedichten und Erzählungen existierende, schwebende Landschaft, gehalten von einem Netz aus Fäden ins Nichts, schreibt die Dichterin Rose Ausländer. Es war das kleinste, multi-nationalste Kronland der k. & k. Monarchie und Czernowitz die Hauptstadt, bis 1918 Schnittpunkt großer Handels- und Verkehrswege. Die multi-ethnischen Czernowitzer verständigten sich Ukrainisch, Russisch, Rumänisch, Polnisch, Ungarisch, Deutsch und nicht zu vergessen: Jiddisch. Wenn wir heute etwas von dieser – dem Vergessen anheimgefallenen Provinz – hören und wissen, verbindet sich das zumeist mit den Namen Paul Celan und Rose Ausländer. Wenige wissen z. B., dass Ninon, die Frau von Hermann Hesse, eine in Czernowitz geborene Ausländer war.  

Die aktuelle Literatur, die heute dort im Entstehen ist, umreißt einen Raum, der inzwischen größer ist als es einst die Bukowina war. Autorinnen und Autoren aus dieser gegenwärtigen Gegend sind in Bremen schon im Rahmen der „Globale“ eingeladen und vorgestellt worden. Aktuell wird am kommenden Sonntag, an einem audiophilen Theaterabend, ein vom ukrainischen Autor, Juri Andruchowytsch, inspirierter Radiotrip zu hören sein. In einem Gespräch (in Berlin) erzählte mir Andruchowytsch einmal, dass er seinen Vater, als der (um 1975, in einem Urlaub am Schwarzen Meer) einen Roman von Karl Emil Franzos las, gefragt habe, wer dieser Autor sei, und sein Vater ihm nur geantwortet hätte: Der liebt uns. – – Franzos, ein 1904 in Berlin gestorbener jüdisch-französisch-galizisch-deutscher Autor liebt die Ukrainer! Warum erwähne ich das?  

Wer vor über 150 Jahren in Deutschland etwas von der Bukowina wusste, verdankte das den Schriften des Schriftstellers Karl Emil Franzos. Wer die Namen Celan und Franzos nennen kann, weiß schon viel von der Gegend, über die Franzos seine einst vielgelesenen „Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien“ publizierte. Er nannte die Länder – im geographischem Sinn – >Halb-Asien< und meinte dies nicht abwertend, wie es ihm aber sehr viel später unterstellt wurde. Darin spricht er vom gesegneten Gelände der Bukowina, ein blühendes Stücklein Europa. In Sachen Integration sogenannter ‘Minderheiten‘ war man dort schon ein großes Stück weiter, als in anderen Gegenden Europas bis heute. Es war nicht nur Paul Celans kosmopolitisches Heim chen! In Czernowitz gibt es übrigens seit 2013 ein Celan gewidmetes Literaturzentrum, eine Sammel- und Forschungsstelle zur Literatur der Bukowina, eine allererste Adresse.

Es klingt romantisch verklärend, durchweht von Kindheit, Sehnsucht, Leid, Vertreibung, wenn die – ja – Exil-Dichtung der Bukowina zumeist rückblickend träumt: Erinnerungen an heimisches Essen, Straßen, Plätze, Pflanzen, Menschen, Mythen und Märchen. Von all dem lässt sich im folgenden Gedicht nur ahnen. Es stammt aus dem Gedichtband >Gnadenfrist< (1980) eines Exil-Autors der Bukowina. Er nimmt darin ein flüchtiges, verlorenes Bild mit, das er mit seinem Daumennagel in einen Apfel geformt hat. Und, wer hätte das gedacht, es verweist (hierher!) nach Bremen und wurde um 1956 nach der Ankunft des Autors in New York geschrieben:

„Camp Lesum Blues“

 

Zum letzten Mal graut mir in Europa

der Morgen. Bald weckt die Freiheitsglocke

die Heimatlosen zum Gebet unterm Sternenbanner

mit anschließendem Breakfast in der Kantine.

 

Siebensachen gestern gebündelt. Die Flasche

Abschied im Hafen. Mit jenem Gesicht, das

nicht mitkommen darf, das Gesicht einer Göttin,

vollkommen bis auf die Narbe links an der Schläfe

unter der Strähne Asche und Gold, dies Gesicht:

ein Apfel, frisch am Markt, gezeichnet

vom Nagel eines prüfenden Daumens.

 

In der Ebbe der Nacht hab ich geschworen,

es nicht zu verlassen, im Wurrlen der Nordsee,     

es hinüberzubringen, im Warnruf des Nebels,

wiederzukehren zu diesem Gesicht,

 

gefroren im Foto, das ich im Langenscheidt

schmuggelte über den Ozean –

und das in Manhattan versank.

 

Auf dem Gelände der ehemaligen „Wilhelm-Kaisen-Kaserne“, gab es das „Überseeheim Bremen-Lesum“, das über 200 000 Auswanderer beherbergte. Und das Gedicht schrieb Alfred Gong, ein rumänisch-US-amerikanisch-deutsch-sprachiger Schriftsteller, 1920 in Czernowitz als Alfred Liquornik geboren, ein Schulfreund von Celan. Gong floh 1946 vor Stalin nach Wien und emigrierte 1956 in die USA, wo er 1981 in New York starb.

Es war ein einziges Fliehen vor Stalin und Hitler. Im Wort >Bukowina< schwingt das österreichische >Wien< mit und es schmerzt darin seit den 1940er Jahren auch der Name „Buchenwald“.

Aber Wien! Dieser Ort war 1948 die Stadt der Begegnung von Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Beide verband die Herzland– und Herzzeitmetaphorik, sowohl in Bachmanns >Die gestundete Zeit< (1952/53) als auch in Celans Gedicht >Herzzeit< (1956), ihre Verbindung hat darin einen frühen sprachlich-emotionalen metaphorischen Ursprungsort.

Die Bachmann spricht in ihrem Gedicht – „Große Landschaft bei Wien“ – über die Geister des wachsenden Stroms, die in dem Strom auf ihrem Weg sind. Der Strom ist die Donau und der Strom der Geschichte, der „öffnet die Steppen!“ heißt es am Ende der ersten Strophe, ehe dann die ‘große Landschaft‘ ausgerollt wird, in der von einer fragilen, wohl unmöglich je zu lebenden Liebe die Rede geht. Bis eine Zeile allein für sich gestellt erscheint, die behauptet: Asiens Atem ist jenseits. Und hier hebt der Atem der Geschichte Österreichs an, in dem der Verlust auch der Bukowina enthalten ist, die Landschaft, die Paul Celan in seiner Büchnerpreisrede (1960) hervorhebt, als eine Gegend in der Menschen und Bücher lebten, und er spricht von der nun der Geschichtslosigkeit anheimgefallenen ehemaligen Provinz der Habsburgermonarchie. Ein oft zitierter Satz. In Bachmanns Gedicht folgt nach dem ‘Atem Asiens‘ ein Abgesang 2000jähriger Geschichte, Endzeitgestus einer wenig Gutes verheißenden Zukunft. Ingeborg Bachmann erhielt übrigens ein Jahr vor Celan den Bremer Literaturpreis zugesprochen, zusammen mit Gerd Oelschlegel. Ein halbierter Preis.   

Die Literaturlandschaft der Bukowina lässt sich mit einem Seufzer Theodor Fontanes eröffnen, der vor gut 130 Jahren schrieb:

Ach, Professor Lasson hatte recht, als er mir mal zwischen Berlin und Steglitz sagte: Ein wirkliches Interesse für deutsche Literatur hat nur die Karl-Emil-Franzos-Gegend.

Karl Emil Franzos ist ein 1848 in Galizien geborener und in der Bukowina aufgewachsener Autor. Er entstammte einer aus Frankreich eingewanderten jüdischen Familie, die der deutschen Sprache, Literatur und Philosophie der Aufklärung nachstrebte. Karl Emil studierte Jura in Graz und Wien, wurde Schriftsteller, Journalist, Herausgeber und war der eigentliche Entdecker Georg Büchners. Er passt also hervorragend in ein Theater.

Doch:   Karl-Emil-Franzos-Gegend.

Dass eine Landschaft den Namen eines Autors erhält, kommt nicht alle Tage vor. Gut sechzig Jahre nach Fontanes Seufzer greift Celan in Bremen sinngemäß das Fontanewort auf, spricht von seiner Gegend in der Menschen und Bücher lebten. Er nimmt 1960 in der Büchnerpreisrede den Bremer Erzählfaden wieder auf, spricht von seinem wiedergefundenen Landsmann Karl Emil Franzos, dem er auf der Suche nach dem Ort seiner eigenen Herkunft begegnet war und benennt ihn als den ersten Herausgeber der Werke Büchners. Franzos war den damals Anwesenden sicher ein eher Unbekannter und blieb es noch lange, ist es bis heute. Aber hier muss er genannt werden.

Franzos besuchte in Czernowitz das seinerzeit einzige deutschsprachige Gymnasium des Ostens und hatte einen Lehrer, der mit seinen Schülern „Dantons Tod“ las. Nirgendwo sonst in einem Gymnasium wurde wohl im 19. Jahrhundert Büchner gelesen. Nur in der Diaspora, in der die Monarchie ihre aufmüpfigen, umstürzlerischen Studenten entsorgte. In der Bukowina infizierte sich der Gymnasiast Karl Emil mit dem hessischen und in Basel verstorbenen Büchner, zukünftige Weltliteratur. Dies ist eine längere Geschichte für sich, der ich vor 20 Jahren ein ganzes Buch mit dem Titel „ZweiGeist“ (2005) gewidmet habe.

Zur Literaturlandschaft der Bukowina . . .  gehören die ukrainische, rumänische, polnische, jiddische, ungarische, russische Literatur, als deutschsprachige Literaturlandschaft hat sie sich erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts herausgebildet, wurde von hier aus erst in der zweiten 20. Jahrhunderthälfte überhaupt als eigenständige und vielsprachige Literatur wahrgenommen. Sie entwickelte sich zumeist als dt.spr. Bukowiner-Literatur in der Diaspora weiter, in Wien, Paris, Bukarest, Berlin, New York, Düsseldorf und wo auch immer, aber auch in Czernowitz.

Um alle Namen und Werke der Literatur der Bukowina auch nur kurz vorzustellen, bräuchte es mehr als drei Abende: Rose Ausländer, Alfred Kittner, Alfred Gong, Josef Burg, Itzik Manger, Selma Meerbaum-Eisinger, Moses Rosenkranz, Immanuel Weissglas, Gregor von Rezzori, dem Autor der wunderbaren Maghrebinischen Geschichten, Marianne Vincent, Klara Blum, Alfred Margul-Sperber . . .  es ist nicht zu machen. Daher seien stellvertretend jetzt nur wenige genannt, eine ungerechte Auswahl:

 

ROSE AUSLÄNDER, sie ist die im deutschen Sprachraum bekannteste Lyrikerin der Bukowina. 1901 in Czernowitz geboren, starb sie nach einer langen Lebensreise 1988 in Düsseldorf. Mit ihrem umfangreichen lyrischen Werk, als englische und deutschsprachige Autorin, müsste ihr ein eigener Abend gewidmet sein, der vielschichtigen Biographie gerecht zu werden. Hier ihr Gedicht zur eigenen Biographie:

Biographische Notiz

 

Ich rede / von der brennenden Nacht / die gelöscht hat / der Pruth / von Trauerweiden / Blutbuchen / verstummtem Nachtigallsang / vom gelben Stern / auf dem wir / stündlich starben / in der Galgenzeit / nicht über Rosen /  red ich

 

Fliegend / auf einer Luftschaukel / Europa Amerika Europa / ich wohne nicht / ich lebe

 

Was hinter den letzten „Luftschaukel“-Zeilen steht, hier in telegrafischer Kürze:

Im noch österreichischen Czernowitz am Fluss Pruth geboren; im Ersten Weltkrieg Flucht vor den russischen Truppen nach Wien; Rückkehr ins nun rumänische Czernowitz und 1921 Emigration in die USA; 1931 wieder zurück und 1939 erneut auf dem Fluchtweg in die Staten; sie kehrt 1941 heim, die erkrankte Mutter zu pflegen; lebte von 1941 bis 1944 im Ghetto des von den Nazis besetzten Czernowitz; verrichtete Zwangsarbeit; reiste 1946 erneut in die USA, kam 1957 wieder nach Europa, publizierte 1963 ihren ersten Gedichtband in Wien und zog von dort nach Düsseldorf, dem österreichischen Antisemitismus zu entgehen. Sie war zehn Jahre bettlägerig und schrieb bis zu ihrem Tod 1988. Was für ein Leben!?

„Welch Wort in die Kälte gerufen“, heißt die erste dt.spr. Gedicht-Anthologie (1968) zur Judenverfolgung. Darin finden sich viele Erstveröffentlichungen, auch ein „Poem“ der damals unbekannten SELMA MEERBAUM-EISINGER. Sie wurde vor 100 Jahren in Czernowitz als Tochter eines Schuhhändlers geboren, dichtete schon als Fünfzehnjährige, inspiriert von Heine, Rilke, Klabund und Verlaine. Aber ihr kurzes Leben fristet sie bald im Ghetto und gerät schließlich mit der Familie zuletzt ins Arbeitslager Michailowka. Selma erkrankt an Flecktyphus und stirbt im Dezember 1942, zwei Monate vor ihrem 19. Geburtstag. Selmas Gedichte wurden erst 25 Jahre später bekannt. Die fast verlorenen Verse gelangten nach einer abenteuerlichen Odyssee ans Licht. Hier ein Auszug aus ihrem >>POEM<<, das im Juli 1941 im Ghetto entstanden ist:

Ich möchte leben.
Schau, das Leben ist so bunt.
Es sind so viele schöne Bälle drin.
Und viele Lippen warten, lachen, glühn,
und tuen ihre Freude kund.
Sieh nur die Straße, wie sie steigt:

so breit und hell, als warte sie auf mich.

 

Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein!

Im großen Rückgriff kommen ich jetzt noch einmal und dies aus aktuellem Anlass zu FRANZOS. In seiner Erzählung „Vom Bart des Abraham Weinkäfer“ beginnt er weit ausholend:

„Im südrussischen Gouvernement Podolien, an dem Schienenstrang, der Kiew mit dem Schwarzen Meer verbindet, liegt das Städtchen Winniza. Dort lebte ein jüdischer Mann, Abraham Weinkäfer mit Namen, seines Zeichens ein Glasermeister.“

140 Jahre später, am 14. Juli 2022, trifft ein russischer Raketenangriff die Stadt Winnyzja, über dreißig Frauen, Männer und Kinder werden dabei getötet. Franzos erzählte die Geschichte eines schrecklichen Irrtums, dem Abraham zum Opfer gefallen ist.

Es war im Jahre 1871, und Abraham stand damals in der Mitte der Fünfzig, als eines Tages der Generalgouverneur von Podolien nach Winniza kam.“

Winniza, das Städtchen am „Schienenstrang nach Kiew“, ist verbunden mit dem Massaker von Winnyzja, bei dem 1937/38 zehntausend Menschen ums Leben kamen. Zwei, drei Jahre später, wurden in Katyn, Charkow und Twer, mehr als 20.000 polnische Offiziere und Beamte per Genickschuss hingerichtet. Massenerschießungen durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD, die Verhaftungswellen, Schauprozesse, Säuberungen und Umsiedelung zehntausender Menschen.

Winnyzja, eine Stadt aus dem 14. Jahrhundert. Überfälle kennen die Bewohner schon lange, seit den ungebetenen Besuchen der Tataren. Die Ukrainer waren mal polnisch, mal russisch, mal sowjetisch und sind doch ukrainisch. Willkürherrschaft hat sich in ihre Geschichte eingeschrieben. Und Franzos, schreibt von einem noch vergleichsweise harmlosen Willkürakt, wenn er über das Schicksal Abrahams weiter berichtet:

Am nächsten Morgen wurde Abraham auf einem Wägelchen schwer gefesselt zur Bahnstation geführt. Ihm gegenüber saßen zwei Soldaten mit geladenem Gewehr; sein Weib und seine Kinder liefen jammernd neben dem Gefährt einher, und viele der Gemeinde folgten hinterdrein, aus Neugier oder aus Mitleid.“

Nun, ein Irrtum, ein fürchterliches Missverständnis kutschierte Abrahams Lebenskarren ins tragisch Absurde. Er saß inzwischen

 „im Gefängnis zu Petersburg. Man hatte ihm gesagt, daß er bald zum Verhör werde vorgeführt werden, aber Tag um Tag, Monat um Monat und ein Jahr verging, ohne daß sich jemand um ihn bekümmerte.“

Dieser Nichts und Niemand von Abraham verkam und als wer weiß wann, nach ihm gefragt wurde, kann der Kerkermeister nur noch stammeln:  „… der Mann ist vor zwei Monaten gestorben.“

Der Name Winniza verbindet sich aber auch seit 1941 mit dem Namen „Werwolf“, so hieß das Führerhauptquartier acht Kilometer nördlich von Winniza in einem Tannenwald gelegen, Hitlers zweite „Wolfsschanze“ (Ostpreußen), nur näher an die Frontlinie gerückt. Massaker auch hier, begangen von der SS und nicht weniger Tote als zuvor durch die Sowjets. Und „Polarwolf“ heißt heute noch ein berüchtigtes Straflager im Permafrost Sibiriens, eines der härtesten Gefängnisse Russlands.  

Das Zwangsarbeits- und Vernichtungslager Michailowka, in dem die Eltern Paul Celans und Selma Meerbaum-Eisinger ermordet wurden, wurde am 10. Dezember 1943 durch die Deutsche Wehrmacht aufgelöst. Sie ermordete alle noch lebenden Häftlinge.

Der blutgetränkte Buchstabe „W“ steht auch gegenwärtig für den stets drohenden Rückfall in den Krieg aller gegen alle. Eine fürchterliche Eselei, die Plautus vor mehr als 2000 Jahren schon gültig und kurz benannt hat:

Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist.

Nur, dass der Wolf damit ganz und gar nichts zu schaffen hat.

Zum Beschluss eine Stimme jiddischer Zunge. ITZIG MANGER, ein Dichter, der stets von seinem „Jiddischland“ dichtete, dem Jiddisch sprechenden säkularen und bilingualen Juden Osteuropas. 1901 in Czernowitz geboren, ist er 1969 in Israel verstorben, der „Prinz der jiddischen Ballade“, des jüdischen Osteuropa, einer Welt, die unwiederbringlich verloren ist. Er überlebte im Exil: in England, den USA und Israel. Itzik Manger vereinigt das Jiddische mit der Weltdichtung und es ist ein Vergnügen, in ihm einen großen jiddischen Dichter zu entdecken. Wenn Sie seinen Welt-Roman „Das Buch vom Paradies“ / „Dos Buch fun Gan Eden“, in der Übersetzung von Salcia Landmann, noch nicht kennen sollten, Sie werden 240 Seiten im Fluge lesen! Hier einen klitzekleinen Vorgeschmack. Das Buch beginnt:

Die Zeit, die ich im Paradies verbrachte, war die schönste Zeit meines Lebens. Noch heute krampft sich mir das Herz zusammen und Tränen treten mir in die Augen, wenn ich mich an jene glückliche Zeit erinnere.

Oftmals schließe ich die Augen und durchlebe noch einmal die glücklichen Jahre, die nie mehr wiederkehren werden.

Es sei denn, der Messias käme.

In solch verträumten Minuten vergesse ich sogar, dass man mir die Flügel abschnitt, bevor man mich auf diese andere Welt herabschickte. Ich breite die Arme aus und versuche, mich zum Fluge zu erheben. Und erst wenn ich dann zu Boden stürze, und Schmerzen am ganzen Körper spüre, erinnere ich mich, dass das vorbei ist, dass nur die Geschöpfe des Paradieses Flügel besitzen.

Und darum eben habe ich beschlossen, alles zu beschreiben, was mit mir geschehen ist, bevor ich geboren wurde und nachdem ich geboren wurde.

Dieser Einstieg ins Buch vom Paradies, spielt natürlich auf Mangers  Emigrationsgeschichte an. Aber bitte, lesen sie gelegentlich dieses Paradies-Märchen einmal selbst.  

Danken und Denken haben im Deutschen einen gemeinsamen Ursprung, in diesem Sinne bedankte sich Celan 1958 in Bremen und so danke heute auch ich, für Ihre Aufmerksamkeit und der Shakespeare Company und den Veranstaltenden der Globale für die Einladung zu dieser geballten Vorrede!

Und nun:  B ü h n e   f r e i  für die „ H e r z z e i t “.